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Digital In Arbeit

„Unter Druck bedingungslos helfen“

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FURCHE: Sie setzen positive Erwartungen in das Heranwachsen einer Generation von Bevölkerungstheoretikern in der Dritten Welt. Sind von hier neue Impulse für Bevölkerungs- und Entwicklungspolitik und ein neues theoretisches Fundament für die Steuerungsprozesse zu erwarten?

VON LOESCH: Wissenschaftler aus Ländern der Dritten Welt leisten heute hervorragende Arbeiten nicht nur in bezug auf ihre Herkunftsländer, sondern auch auf ganz anderen Gebieten. Der Inder Moni Nag zum Beispiel hat hervorragende Studien in Lateinamerika gemacht, das sind Leute, die den realistischen Blick des Vertoeters der Dritten - Welt mit der Schulung, die sie in den USA erworben haben, verbinden. Das Problem ist, daß diese Leute zum Teil im amerikanischen oder internationalen Geschäft hängenbleiben, weil im eigenen Land die Voraussetzungen für ihre wissenschaftliche Tätigkeit fehlen.

FURCHE: Ist die Arbeit dieser Leute, ich denke zum Beispiel an die indischen, von sozialem Impetus getragen?

VON LOESCH: Es gibt solche und solche. Aber was Sie unter diesen Leuten nicht finden werden, das sind die reinen Schreibtischwissenschaftler, die die Bevölkerungsvermehrung als eine Kaninchenvermehrung von besonderer Art betrachten.

FURCHE: Wie weit kann die Beschäftigung mit den Bevölkerungsproblemen zum Motor einer geänderten Verhaltensweise werden? Man spricht auf der ganzen Welt über Geburtenkontrolle, kann bereits diese Tatsache bevölkerungspolitisch wirksam werden?

VON LOESCH: Wir haben auf der einen Seite die starke Entwicklung der präventiven Medizin seit 1945 mit der Verlängerung der Lebenserwartung und auf der anderen Seite die sozio-öko-nomische Lebensgestaltung, wo kaum ein Fortschritt erzielt wurde. Die Menschen leben länger, aber man ist- ihnen Lebensinhalte schuldig geblieben, alles, was außer Essen, Trinken und ein paar anderen Grundfunktionen geeignet ist, das Leben lebenswert zu machen. Ein Mensch mit einer Lebenserwartung von 30 Jahren ist einen nicht unerheblichen Teil seines Lebens Kind, dann hat er eine kurze Phase, wo er beginnt, Erwachsener zu werden und in eine Gesellschaft aufgenommen zu werden, in diese Phase fällt bereits die Ehe und die Fortpflanzung, und dann bleiben ihm noch ein paar Jahre im statistischen Durchschnitt, bis er stirbt. Mit 25 oder 30 Jahren ist er bereits ein alter Mensch.

FURCHE: Jahre, in denen er völlig davon absorbiert ist, am Leben zu bleiben.

VON LOESCH: Genau, das Leben ist kurz und häßlich, und er kommt im Grunde gar nicht dazu, darüber nachzudenken. Wird aber die Lebenserwartung dieses Menschen auf 60, 70 Jahre verlängert, sieht die Sache anders aus. Derselbe Mensch hat nun, wenn er die Verlängerung seines Lebens erkennt (was natürlich erst, nach einer Erkenntnisfrist, der nächsten Generation möglich ist), die große Frage, was tun. Ein Fünfzehnjähriger, der sich auf ein Leben von 60 oder 70 Jahren vorbereitet, hat eine andere Lebensplanung als einer, der erwartet, mit 90 zu^sterbeni' Damit>ltauclrt“ erstmals die Frage der Investition in das eigene Leben auf. Was tue ich, mein Leben zu füllen, zu nutzen? Dieser Erkenntnisprozeß ist, wie ich glaube, jetzt gerade im Gange. Nun haben wir eine Situation, in der die Lebensformen, die für eine kurze Lebenserwartung gültig waren, auf die lange Lebenserwartung der nun lebenden Generation gepreßt werden. Die Lebensformen der Armut, des Analphabetismus, der Fremdbestimmung des Daseins, der sozialen Unterdrückung, der Einschichtung in eine Kaste oder sozialspezifische Schicht und so weiter, dies sind Bedingungen, die nicht geeignet sind, sinnvolle Investitionen in das Leben des einzelnen zu machen.

FURCHE: Wird nicht doch die Ideologie der Geburtenkontrolle eines Tages nach unten durchschlagen?

VON LOESCH: Das ist der wesentliche Punkt, den ich zu beweisen versuche: Daß in einer solchen Situation, wie wir sie gerade beschrieben haben, für den Menschen mehr Kinder und in einer patriarchalischen und patri-linearen Gesellschaft vor allem mehr Söhne zu haben, ein Erfolg ist. Der Mensch .wird in jedem Fall Versuche, ihn an seiner einzig legitimen und aussichtsreichen Form der Selbstverwirklichung und mit Selbstaufopferung verbundenen Leistung zu hindern, abweisen, er hat das Gefühl, übertölpelt zu werden, als der Manipulierte und Nachfolger von unzähligen manipulierten Generationen hat er das ganz normale und richtige Gefühl, daß alles, was von. oben kommt, nur negativ sein kann, und er wird jeden Versuch zur Bevölkerungskontrolle, der von oben kommt, ganz klar als einen Versuch zu seiner Übertölpelung empfinden. Und das, was man ihm auszureden versucht, wird er nun erst recht tun, nämlich möglichst viele Kinder bekommen. Wenn die da oben sagen, daß ich das nicht tun

soll, dann habe ich sicher einen guten Grund, es zu tun.

FURCHE: Kann man sagen, daß Versuche, Entwicklungshilfe an bevölkerungspolitische Maßnahmen in den Entwicklungsländern zu koppeln, endgültig der Vergangenheit angehören?

VON LOESCH: Seit der Bukarester Konferenz ja. Vorher konnte man da nicht so sicher sein. Aber je mehr man heute über die tatsächliche Welternährungslage erfährt, um so deutlicher wird die Bereitschaft, unter dem Druck der Humanzwänge bedingungslos zu helfen. Es könnte in den nächsten Jahren zu einem gründlichen Umdenken auf dem Gebiet der Entwicklungshilfe kommen.

FURCHE: Um noch auf eine Nebenbemerkung Ihres Buches zurückzukommen: Sie gewinnen den Slums in der Dritten Welt, die üblicherweise ausschließlich aus negativen Blickwinkeln gesehen werden, positive Aspekte ab?

VON LOESCH: Ich wollte dabei zeigen, daß die Slums Übergangs-zustände zwischen Land und Stadt sind. Jüngere Untersuchungen bestätigen, daß die Bewohner der Slums eine positive Auswahl aus dem Menschenpotential des betreffenden Landes darstellen, Leute, die sowohl risikobereiter als auch besser ausgebildet sind als die übrigen Landbewohner, und die sich eines Tages aufmachen, und in die Stadt ziehen. Sie machen sich auf in die Stadt — und kommen im Slum an. Sie haben dort meist schon Verwandte, die ihnen die erste Ankunft erleichtern, und sei es auch nur durch die Kommunikation, so daß sie nicht völlig isoliert sind. Ein Teil der Slumbewohner zieht nach einiger Zeit zurück aufs Land — und zwar eine negative Auswahl der Slumbewohner, jene, die sich in der Stadt, im Slum, nicht halten können. Die qualifizierteren bleiben da.

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