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Unter freiem Himmel

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Das dichteBdeinandersem verschiedenster Blütenstände, der Dschungel von Gräsern, Laub und Unterholz, in dem man sich verirrt. Die Kinder durchstreifen den Wald, sie haben Pfeü und Bogen in der Hand, nicht, daß sie schießen und treffen wollen, sie wollen nur die Möglichkeit haben, es zu tun, sie wollen ein Werkzeug besitzen, mit dem sie in die Weite zielen können, in die Weite der Welt, die ihnen ge-

hört, die ihnen zu Füßen liegt. Wenn sie einen Graben überspringen, trampeln sie gleichgültig Famkräuter und Buschblumen nieder, es gibt soviel Blühendes ringsimi, alles ist dicht, interessant, sehenswert. Der Frühling entzückt sie.

Endhch sind sie auch noch nach dem Abendessen im Freien, es gibt kavmi eine Beschränkung der Stxm-den, sie hören den Kuckuck und die Hunde zugleich, die Glocken, den Wind imd die Rufe der Mutter, die die Kinder zurück ins Haus haben will. Die Kinder antworten nicht, sie leben im vollen, sie gehen einen Weg, auf dem sie das Treibende, Wuchemde, Kraftstrotzende imd Hoffmmgsvolle genießen. An diesen Frühling werden sie später einmal zurückdenken und nicht nur das, sie werden auch geistig vom Frühling essen, imberührt davon, daß es inzwischen Sommer geworden ist.

Jetzt hat die Natur eine einheitlich grüne Färbung. Natürlich ist das Grün von der Blumenbuntheit durchzogen, nur da imd dort fallen Einzelheiten auf, Licht und Schatten geben den Ton an. Das Paar, das leichtfüßig bergauf läuft, bleibt auf der Spitze des Hügels zum Diurchat-men stehen, es zieht in vollen Zügen den Sommer ein. Diese Jahreszeit sollte immer bleiben - sagt die Frau. Er hält ihr vor, daß sie die sommer-lichen Gewittergüsse fürchtet und auch der Hitze aus dem Weg geht. Das stört die Frau in ihrer Juli-Liebe nicht. Die Hitze klingt abends ab - sagt sie - Gewitter gibt es auch nicht jeden Tag, imd die Sonne danach läßt Schäden an Blumen und Früchten wieder gut werden. Das ist das Schöne am Sommer - begeistert sie sich - daß alles wieder gut wird. Daß die Natur immer in Pracht und FüUe steht, daß es zwar brennheiße Wege, zugleich aber den schützenden Schatten gibt, in dem man sich aufhalten kaim.

Der Mann um die dreißig, ihr Partner, stimmt ihr zu. Auch er mag diese Jahreszeit. Ersteigt auf Berge, fährt in Kanus, schlägt s chneUe Bälle über das Netz und sdiwimmt in den Seen. Er mag die Tage, die früh anfangen und spät zu Ende gehen. Man muß den Sommer - sagt er zur Frau - ganzheitüchnützen, man darf keineMüdigkeit aufkommen las sen. Laufen wir weiter.

Es kommt die Zeit, in der jedes Ding seine eigenefFarbe hat und nicht verwechselt werden kann. Die Frau geht jetzt oft allein durch den Wald, ihr Partner hat die steüen Anstiege nicht mehr so gem. Im Herbst entdeckt die Frau vieles, was sie im Sommer übersehen hat. Zum Beispiel die kleinen roten Ahom-blätter im Buschwerk. Vor einem Monat konnte man das Laub kaum unterscheiden, jetzt ist erkennbar, daß Ahomblätter ganz anders als ein Weißdomblatt gezeichnet sind. Immer wieder muß die Frau stehen bleiben, nicht nur, um kurz auszurasten, vor allem, um sich des neuen

Anblickes zu vergewissem.

Der Wald kommt ihr jetzt nicht mehr so dicht vor. Vielleicht habe ich andere Augen bekommen, denkt sie. Oder ich habe in früheren Jahren nicht genau hingesdiaut. Wir waren immer zu Gipfeln unterwegs, haben gejoggt, sind senkrecht angestiegen, haben die Geräte der Forstmeilen benützt und die Klettersteige, es gab jeden Tag ein anderes Programm, wie konnte man da auf Blatt- und Pflanzenformen achtgeben! Schade, daß derHerbst so leicht zerstörbar ist, daß die Pracht fast schon beim Anrühren fällt.

Das Licht des Schnees verschafft den alten Leuten gute Sicht. Ein ruhiges Rundumsctzuen ist in dieser Formengleichheit möglich. Weiß, flaumig und sanft sind die Gegenstände in der Natur. Der Tag ist kurz, aber man hat Muße genug, ins Freie zu gehen und sich umzuschauen. Die Schritte der alten Leute sind nicht mehr ungeduldig schnell, sondem gemessen, bedacht. Nicht daß einer von ihn^n hinken würde, sie sind mit ihren sechsundsiebzig

Jahren, nach einem Leben voll Sport und körperlicher Wendigkeit, noch gut dran. Sie ziehen beide noch mit Langlaufskiem über die Felder, nicht um ihre Schnelligkeit zu testen, sondem weil sie frische Luft nötighaben und weil ihre Glieder noch halbwegs gelenkig sind. Sie genießen es, die Landschaft wie ein gemaltes Büd vor sich zu sehen. Trübe Stunden bereiten sie nur auf die superhellen vor, in trüben Stunden freuen sie sich auf die nächste Sonne.

Wenn ich mir ein Wohnen aussuchen könnte, würde ich noch höher in den Norden ziehen - sagt der Mann. Ich käme mit dir, antwortet sie, die einmal nur den Sommer haben woUte. Jetzt gefäUt ihr der Winter, der Willenskraft und Gleichmut verlangt; das sind zwei Eigenschaften, die es braucht für das Überleben.

Wie lange?Danach zu fragen wäre sinnlos, angesichts der weißen Harmonie. Sie haben schon als Kinder Vertrauen zur freien Natur gehabt. Das wollen sie bis zum Ende ihrer Tage so halten.

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