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Unterdrückt und zugleich privilegiert

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Der Berliner Literat Lutz Rathenow hat sich zur Stasi schon öfter geäußert. Auch in der furche. Ein neuer Bilanzversuch.

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Der Berliner Literat Lutz Rathenow hat sich zur Stasi schon öfter geäußert. Auch in der furche. Ein neuer Bilanzversuch.

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dieFurche: Die evangelische Kirche protestierte verschiedentlich gegen die Darstellung von vermeintlichen Kirchen-Spitzel in den Medien. Lutz BathenoW: Die Diskussion punkto DDR-Vergangenheit ist an einem heiklen Punkt angekommen. Eine mühsame wissenschaftliche Kleinarbeit findet statt -kaum attraktiv für die Medien. Eine bestimmte Anzahl von Leuten arbeitet Vergangenheit anhand der eigenen Akten auf - jeden Tag in der Gauck-Rehörde. Auch das wird nur noch selten zur Kenntnis genommen. In die Öffentlichkeit kommen nur heikle oder Zweifelsfälle. Natürlich liegt jeder Mensch anders - und keine Verstrickung ist mit einer anderen identisch. Dennoch wollen maßgebliche Vertreter der Kirche nicht zur Kenntnis nehmen, wie sehr sie gerade in den letzten Jahren unnötig das System in der DDR stabilisierten. Ich glaube, daß es beiden Kirchen in der DDR sehr schwerfällt zuzugeben, gleichzeitig eine unterdrückte und eine privilegierte Minderheit gewesen zu sein.

diefurche: Die katholische Kirche steht besser da? Auch da wurden jetzt zahlreiche „inoffizielle Mitarbeiter (IM)" entdeckt Die Kirche veröffentlichte selbst einen Bericht, in dem sie auf Unterschiede der Beurteilung dieser IM-Tätigkeit beharrte. Gibt es einen Fall Stolpe auch in der katholischen Kirche? rathenow: Offenbar nicht. Vertreter, die regelmäßig über ihre Gespräche mit dem MfS berichten, arbeiteten nicht konspirativ mit ihm zusammen. Trotzdem bleibt die Frage noch zu klären, wie weit die einzelnen Verhandlungspartner den Methoden eines riesigen Geheimdienstes gewachsen sein konnten. Beide Kirchen benutzten zu wenig die (West)Öffentlichkeit als Kampf- und Druckmittel gegen die Machthaber in der DDR. Und sie führten ihre Gespräche isoliert. Es kann also sein, daß die Kirchen mehr oder weniger schon ihre Eigeninteressen berücksichtigten - und dennoch in Konflikt zu einer schon vorhandenen Opposition in der DDR handelten.

Die Interessen der Institution Kirche sind eben nicht immer die Interessen des einzelnen Gläubigen.

dieFurche: Also wird die ganze Vergangenheitsdebatte nicht zunehmend sinnlos, weil die Mehrheit der Menschen davon nichts mehr hören mag? rathenow: Das bestreite ich. Viele sind enttäuscht oder verbittert, weil es offenbar so schwer ist, Verantwortliche zur Rechenschaft zu ziehen. Andere blockierten von Anfang an bewußt jede wirkliche Auseinandersetzung. Immer mehr ehemalige Nutznießer der DDR spielen sich jetzt als Verfolgte auf, zum Beispiel Philosophie-Professoren, die nicht die gleiche Rente wie ein Professor der alten Bundesländer bekommen. Die Atmosphäre ist verlogen, verlogener als vor zwei Jahren, als einige noch schwiegen.

dieFurche,: Sollte man nicht doch einfach vergeben, was schlüssig nicht zu untersuchen ist' Sind nicht zu viele Menschen hinein verwickelt? rathenow: Praktisch wird jeden Tag vor allem vergessen. Natürlich ist das Leben kein Wissenschaftskolleg. Zur Vergebung gehörte aber das Eingeständnis der Sünde. Oder zumindest des zweifelhaften Verhaltens. Ich würde gern faktisch allen ehemaligen IM vergeben. Einige verhindern es dadurch, daß sie bestreiten, getan zu haben, was sie nun einmal getan haben. Das ist typisch für die ganze Gesellschaft. Ehemalige Opfer fühlen sich nicht nur von den Taten von damals verhöhnt, sondern vom Zynismus der Täter heute, wie diese ihre Handlungen umdeuten. Die Stasi-Mitarbeiter glaubten, daß hinterlassene Akten sie eigentlich entlasten würden.

diefurche: Gibt es in der Ex-DDB eine neue Dissidentenfeindlichkeit?

rathenow: Ja, wer früher anders lebte als die Mehrheit, stört heute jene, die eine allgemeine Erinnerungstrübung betreiben wollen. Im intellektuellen Leben Berlins nimmt das aggressive Formen an. Die Verfolgung durch die Staatssicherheit wird zum Teil wieder gerechtfertigt.

diefurche: Wurde seitens der Stasi, der SED und ihrer Nachfolger eine gezielte Verwirrtaktik eingesetzt — zum Beispiel durch gefälschte, gesäuberte, fingierte Akten? Wieviel Aufwand erfordert eine kritische Sichtung und Verifizierung?

Lutz Rathenow: Gefälschte Akten traten sicher nicht zutage. Allerdings wurden durch zielgerichtete oder zufällige Vernichtung das Erkennen von Zusammenhängen erschwert. Insofern müßte wohl an der Veröffentlichung aller Akten für Fachbibliotheken gearbeitet werden. Doch nicht die Akten sind das Problem. Das liegt in den verschiedenen Erinnerungen der Menschen, in ihren Verdrängungen. Wahrscheinlich kann erst die erste unbeteiligte Generation unvoreingenommen an die Akten herangehen.

diefurche: Gibt es ein unterschiedliches Umgehen mit dieser Spannung bei der evangelischen und der katholischen Kirche inklusive Vertu-schungs- und Ablenkungsmanöver?

rathenow: Die beiden Kirchen spiegeln ziemlich genau den Zustand der ganzen Gesellschaft wider. Alle Kontroversen gehen quer durch die Parteien, Lager und die religiösen Auffassungen. Für die einen ist alles schon zu klar und die DDR-Vergangenheit durchweg mies, die Staatssicherheit die konzentrierte Rösartigkeit. Für andere relativieren sich die vergangenen Spannungen immer wieder. Sie fühlen sich heute unterdrückt. Die katholische Kirche verkraftet den System-Wechsel äußerlich besser, sie wird durch autoritäre Strukturen gehalten. Die evangelische Kirche sucht nach einem Standort. Viele motivierte Kirchenmitarbeiter sind in die Politik abgewandert. Sekten greifen um sich und versuchen, religiöse Redürfnisse zu befriedigen.

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