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Unternehmen Kyselak

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Zu Fuß durchwanderte Joseph Kyselak im Herbst 1825 Österreich, verewigte seinen Namen an exponierten Stellen und schrieb seine Erlebnisse nieder. Der Meinungsforscher Ernst Gehmacher wandelte auf Kyselaks Spuren, sein Buch erscheint demnächst im Verlag Fritz Molden, Wien.

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Zu Fuß durchwanderte Joseph Kyselak im Herbst 1825 Österreich, verewigte seinen Namen an exponierten Stellen und schrieb seine Erlebnisse nieder. Der Meinungsforscher Ernst Gehmacher wandelte auf Kyselaks Spuren, sein Buch erscheint demnächst im Verlag Fritz Molden, Wien.

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Die Überschreitung des Steinernen Meeres kann in vielen Belangen als ein Höhepunkt der Kyselakschen Expedition angesehen werden. Es war das schwierigste hochalpine Unternehmen, das er ohne Führer machte. Er kam dabei auch ernstlich in Gefahr, obwohl er von den oft recht ausgesetzten Routen, die ihn seine Tiroler Führer wiesen, vielleicht stärker beeindruckt war. Er stürzte beim Aufstieg vom Königssee zum Funtensee und hatte Glück, daß er sich nicht schwerer verletzte.

Auf dem Hundstod, mit über zweitausendsechshundert Me-

tern Seehöhe der zweithöchste Punkt seiner Reise, erlitt er einen Schwächeanfall, der ihn, da er allein war, ebenfalls in Gefahr brachte. Auch die alpine Witterung zeigte ihm dort am grimmigsten die Zähne. Er hatte Glück, dort oben in der Person des Pinzgauer Schafhirten wahrhaftig einen guten Hirten, fast einen Freund, zu finden.

Dieser Ignaz Romoser, dessen Name sorgsam verzeichnet ist, war aber auch der einzige Mensch auf der langen Reise, zu dem Ky-selak aufrichtige Zuneigung faßte. Er pflog in den wenigen Städten, wo sich Gelegenheit dazu bot, bürgerliche Geselligkeit. Das mögen für ihn Inseln seiner eigenen Welt gewesen sein, auf denen er sich von dem Fremdheitsschock dieser Reise zu den Primitiven erholte.

Die Einheimischen hingegen regten Kyselak auf — und das spricht für die Spontaneität seines Empfindens; nur Gefühlskälte bleibt in der Begegnung mit radikal anderen, vielfach unverständlichen Menschen unberührt. Meist erzürnten oder ärgerten sie ihn — selten bewunderte er jemanden, wie etwa die freundlichen Wirtsleute in Lannerbach.

Die Überschreitung von Berchtesgaden nach Saalf elden dauerte aber auch am längsten von allen Vorstößen ins völlig Unzivilisier-te. Kyselak marschierte prinzipiell von Gasthaus zu Gasthaus, wie unzulänglich die damalige Beherbergungswirtschaft auch war. Die alpine Wanderbewegung, sprich: der Alpinismus, blieb diesem Grundsatz treu und überzog unsere Gebirge mit einem Netz von Wegen und Hütten, also Gasthöfen in Gehdistanz. So selbstverständlich wäre das nicht. Die Tradition des Camps begleitet den Aufstieg des Fremdenverkehrs ebenso beharrlich: das Lagern ums offene Feuer, das Selberkochen, das Schlafen im

Freien haben ebensolchen technologischen Fortschritt aufzuweisen wie die Hotellerie.

Auf dem Steinernen Meer verbrachte er vier Tage fern von den Stützpunkten der bürgerlichen Zivilisation, aber auch fern von der zivilisatorischen Verderbtheit, bei einem echten Primitiven. Das Erschütternde an solchen Begegnungen mit dem „edlen Wilden" wallt aber vielleicht gar nicht sosehr aus der eingestandenen Überlegenheit, daß sie edler, also unverdorbener im Charakter sind als wir — das geben wir vielleicht ganz gern zu. Doch suchen wir uns nicht zu verhehlen, daß sie, die wir auch in uns selbst verdrängt und vernichtet haben, in Wahrheit noch über Quellen der Weisheit und inneren Stärke (von der physischen Gesundheit gar nicht zu reden) verfügen, die uns verschüttet sind.

Zweifellos haben wir mehr Intelligenz zur Verfügung. Aber sie ist eingebaut in Motoren, Bibliotheken, Medikamenten, Transistorradios, sie kommt aus dem Steckkontakt und dem Warenhaus. Sie dient uns, aber sie ist nicht die unsere. Ohne ihre fremde Hilfe sind wir kindhaft unbeholfen. Zweifellos brauchen wir diese unmittelbare körperliche Intelligenz nicht mehr. Wo kommt es schon vor, daß von unserer Kreativität unmittelbar unser Leben abhängt?

Wenn ich mich das frage, so fallen mir nicht wichtige berufliche

Probleme ein, sondern Situationen beim Wandern. Wie ich in Turnschuhen einer Eisrinne entkam, durch den erlösenden Einfall, mit einem Steinbrocken als Faustkeil Stufe um Stufe zu meißeln.

Wie ich mich allein leichtsinnig längs einer Felsritze zu einem Haken emporgequält hatte, um mich dort, fünf Meter seitlich vom leichten Gipfelschrofen, aber von spiegelglattem Fels umgeben, auf einer winzigen Kanzel eingekerkert zu finden — denn ein Zurückklettern hätte Absturz bedeutet; und wie ich dann nach einer Stunde Verzweiflung, Apathie und Aufruhr zu grübeln begonnen hatte, bis mir der rettende Gedanke gekommen war, meine Decke in Streifen zu schneiden und mit diesem Behelfssen die fünf Meter im Quergang zu überwinden — was mir gelang, obwohl ich von Quergängen vorher nur gelesen hatte.

Das Steinerne Meer, das Kyselak vier Tage festgehalten hatte, ergab sich uns in einem meditativen Spaziergang von zehn Stunden. Zuerst hatte es nicht danach ausgesehen. Ein Morgenregen versprach uns einen Vormittag im Bett. Wir hatten abends noch lange beim Pinzgauer Heimatdichter Konrad Nusko gebechert, als Forscher nach der Volkskultur, wo sie noch aus dem Volk kommt (nicht leicht in einer Zeit, da sich Volk samt Volkskultur im sozialen Aufstieg verflüchtigen), stark berührt von der alltäglichen Fröhlichkeit und Gelassenheit, die sich hinter dem simplen Pathos des Poetischen versteckt:

Vor neun Uhr sog aber die Sonne vehement die Nebelschwaden auf und jagte uns aus den Federn. Wir ließen uns noch von unserer friedlich tratschfreudigen Wirtin mit einem Hyperfrühstück verwöhnen und zockelten los.

Die Sonne ließ uns nie ganz im Stich, erst gegen Abend gab sie sich vor den grauen Wolkenwellen, die über die Zackenkante des Watzmanns brandeten, geschlagen. Der Weg hinauf zum Riemannhaus am Rand des Plateaus wurde gerade mit einigem Zement und Eisendraht den Vorstellungen der norddeutschen Fremdenverkehrsgäste von ei-

nem Promenadenweg angepaßt. Von dort zum Funtenseehaus ginge man in zwei Stunden, widerstände man dem Männchenmachen der Murmeltiere (pinz-gauerisch: Mankerln), die ums Photographiertwerden betteln.

Lieber Kollege Kyselak, Ihre naturschützlerischen Appelle sind nicht unbeachtet verhallt. Wo Sie die Baummörder am Werk sahen, den Raubbau an der alpinen Flora anprangerten, rund um den Funtensee, da darf nun weder Rind noch Ziege grasen und Lärche wie Murmeltier werden gehegt und gezüchtet. So sehr, daß man sich eher in einem Alpenzoo wähnt als in einer hochalpinen Wildnis.

Wir wollten am Funtensee nächtigen, um vielleicht am nächsten Morgen auf den Hundstod zu wallen, getreulich auf unseres Vorgängers Fährte. Doch der biedere bayerische Hüttenwirt fuhr uns streng an: „Sind Sie Alpenvereinsmitglied? Dann müssen Sie ja wissen, daß Hunde auf Hütten nicht mitgenommen werden dürfen!"

Wir blickten auf unseren kleinen verspielten Spitz, der die ihm zugedachte Rolle des Kyselakschen Düna recht dilettantisch spielte, und fragten kurz entschlossen: „Wann geht das letzte Schiff von St. Bartholomä?" So ernst hatte es der Wirt gar nicht gemeint, doch das heraufziehende Schlechtwetter, dem die Sonne wohl nur noch diesen Tag abgetrotzt hatte, machte rational, was sonst nur eine Trotzreaktion gegen Hüttenwirtsautorität gewesen wäre.

Beim Hinunterschlendern über die Saugasse zerbrachen wir uns den Kopf, wo Kyselak 'seinen schußauslösenden Purzelbaum geschlagen haben mochte. Doch blieb uns nicht viel Zeit zu solchen historischen Nachforschungen. Die letzten Hänge hinab und über das Wildbachdelta, über Sandbänke und durch Uferauwald hetzten wir schon mit dem Königsseedampfer um die Wette. Die Fahrt über den abendlichen See wäre ein würdiger Abschluß dieses besinnlichen Tages gewesen.

Doch die Unzulänglichkeit der kollektiven Intelligenz, die nach 20.15 Uhr von Berchtesgaden nach Salzburg kein öffentliches Verkehrsmittel mehr bereitstellt, zwang uns noch zur Anwendung von Muskelkraft und humaner Intelligenz. Wir bewogen mitfühlende Autofahrer, uns samt Rucksäcken in ihrem privaten Gefährt zu verstauen — und bezahlten sie mit einigen Anekdoten aus Kyselaks Berchtesgaden-Erlebnissen: eine Münze, die sich vielerorts als gängige Währung erwiesen hat.

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