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Untersuchung um jeden Preis?

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Ein ganz normaler Alltag in einem der großen Spitäler: die 75jährige Frau mit Schilddrüsenfehlfunktion wird von der Maschinerie einer perfekten Medi- cotechnologie erfaßt. »

Nicht etwa, daß der Mensch in den Hintergrund träte - er wird bloß dem Apparat zur Seite gestellt.

Nicht etwa, daß den Ärzten und Schwestern das Gefühl für den Mitmenschen abhanden gekommen wäre, es wagt nur niemand mehr, den Patienten gegen den mechanischen Ablauf eines Parkinson-Effektes in Schutz zu nehmen.

Muß wirklich die erschreckend untergewichtige Frau von den Haarwurzeln bis zur letzten Zehe in großteils schmerzhafte Untersuchungen gezogen werden, damit man nachher sagen kann, es sei alles dem Alter entsprechend?

Was nützt das Mitgefühl der Stationsschwester, des Sekundär-, des Oberarztes und des Dozenten, von denen jeder anders, aber in herzlicher Weise formuliert, mansei aber schon sehr blaß und äußerst schwach, man müsse recht bald an Gewicht zunehmen.

Was nützt all dies, wenn gleichzeitig die Maschine weiterhin unwidersprochen verlangen darf, vier Tage in der Woche habe der Mensch morgens nüchtern zu Untersuchungen zu erscheinen, schließlich dürfe er sich ja auch erholen beim' stundenlangen Warten, beim Fürchten auf teils vermeintlich, meistens tatsächlich schmerzhafte Erkundungen durch Messen, Anschauen und Fotografieren im Körperinneren.

Der „Schilddrüse“ wird erst Ruhe gegönnt, sobald Hirnfunktion, Kreislauf, Herz, Lunge und Niere sowie die sonstigen menschlichen Bestandteile maschinell „durchgecheckt“ wurden.

An diesem normalen Alltag im großen Spital mit einem Heer aufopfernder, umsichtiger Ärzte, mit fleißigem, freundlichem Pflegepersonal, mit entgegenkommenden, hilfsbereiten Verwaltungsangestellten wird auch ein 78jähriger Mann mit einer akuten Angina pectoris eingeliefert.

Er war erst vor einigen Wochen aus einem benachbarten Krankenhaus derselben Stadt nach Hause entlassen worden. Die Behandlung dort wegen derselben Beschwerden war nach umfangreichen Untersuchungen zielgerichtet und erfolgreich gewesen.

Außer einem Sekundararzt, der vom Patienten laienhafte Hinweise über im ersten Spital verabreichte Medikamente erfragt, fällt es niemandem ein, vom Nachbarkrankenhaus die Krankengeschichte und Befunde, anzufor dern, die ein Bote mit dem Fahrrad in 15 Minuten hätte bringen können.

Nein: Meine Maschine, deine Maschine. Wir haben ja selbst Apparate. Und der Patient wird „gecheckt“, Hirn, Kreislauf, Herz, Lunge - wie gehabt!

Auch hier gibt es kein Schild, vor keiner Folterkammer, vor keinem Apparat, daß auch zu Tode untersucht werden kann.

Dafür wird der Herz-Patient, dem man liebevoll aufträgt, sich möglichst nicht aufzuregen, neben einen an unzähligen Schläuchen hängenden Sterbenden gelegt; zeitweise übertönt das Todesröcheln des einen das anfallartige Stöhnen des andern.

Ein ganz normaler Alltag in einem der großen Spitäler.

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