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Unterwegs in die innere Emigration

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Der Autor hielt einige Vorträge an polnischen Universitäten. In seinen Reisenotizen widerspiegelt sich die gegenwärtige Stimmung unter den polnischen Intellektuellen.

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Der Autor hielt einige Vorträge an polnischen Universitäten. In seinen Reisenotizen widerspiegelt sich die gegenwärtige Stimmung unter den polnischen Intellektuellen.

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Die Sechserzüge der Miliz, die in der Innenstadt von Warschau patrouillieren, scheinen ebenso zu frieren wie die spärlichen Spaziergänger, die an diesem strahlenden, doch bitterkalten Oktobernachmittag unterwegs sind.

Die Sankt Anna-Kirche gegenüber dem Denkmal des Nationaldichters Adam Mickiewicz ist keine besonders auffällige oder großartige Kirche. Dennoch: gerade vor ihr sammeln sich die Menschen um ein Blumenkreuz, kleiner als das, das auf dem Siegesplatz aufgelegt worden war, aber mit allen Symbolen: das urchristliche Kreuz, in Form eines Ankers, ist flankiert von den Kohlestücken, die an den Tod der drei Bergleute in Lublin am 31. August erinnern, von brennenden Kerzen, den Bildern Kardinal Wys-zinskis und Lech Walesas. '

An manche der Gestecke sind Zettel angeheftet. Ein junger, bleicher Mann bückt sich, liest sie, murmelt etwas, das von den Umstehenden mit Kopfnicken aufgenommen wird, und entfernt sich rasch.

Diese Zettel enthalten Aufrufe zur Fortsetzung des Kampfes der Solidarität — niemand wagt aber zu entscheiden, ob sie ernstgemeint oder als Provokation durch die Machthaber zu deuten wären. Man vermeint in dieser kalten Herbstluft überall Mißtrauen zu spüren.

Die Sankt Anna-Kirche selbst ist — wie alle Kirchen in Warschau, Krakau, Danzig oder Breslau — zu jeder Tageszeit voll von betenden Menschen. Vor den Marienaltären brennen Kerzen, murmeln die knienden Gläubigen Gebete. Die Kirche ist so etwas wie ein Ort der Stärke, der Sicherheit, der Geborgenheit, auch wenn viele von ihr mehr Militanz, mehr Mut gegenüber den Machthabern fordern.

Eine kleine Gasse in der Altstadt. Durch eine unauffällige Holztüre gelangt man in den Innenhof des Dominikanerklosters. Hier hat die Kirche eine der Hilf s--und Kontaktstellen für Internierte und Gefangene eingerichtet. Einige verhärmt und verzweifelt aussehende Frauen werden von einem jungen Priester beraten. Geht es um Informationen über den Aufenthalt von Internierten, um Rechtshilfe, um materielle Unterstützung? An der Wand hängt eine große Skizze der Zufahrten zu einem Internierungs-lager. Alle Räume verbreiten jene undefinierbare Atmosphäre von Caritas und Hilfspaketen, die wir aus den ersten Jahren nach dem Krieg in Osterreich kennen — durchtränkt von der merkwürdigen Mischung aus Angst, Hoffnung und Verzweiflung.

Die Blätter in den Parks von Warschau verfärben sich wie überall. Der Herbst drückt diesem Land eine zusätzliche Traurigkeit auf. Die Wälder und Wiesen, an denen man vorüberfährt, lassen die Weite des Landes spürbar werden, eine Weite in der man sich verlieren kann. Pferdefuhrwerke und Pflüge der Bauern, weidende Kühe täuschen eine Idylle vor, die keine ist, die aber wieder auf lebt jn der Herzlichkeit, in der man überall empfangen wird.

Die Universitäten sind äußerlich ruhig. Die Sensibilität, in der diese immer wache und hellsichtige polnische Intelligenz lebt, spürt man in den Augen derer, mit denen man spricht.

Dahinter — ist es Resignation, Abwarten, Atemholen, oder bereits jene Emigration nach innen, die die letzte Zuflucht derer bleibt, die um die Vergeblichkeit eines Widerstandes ebenso wissen, wie um die Unmöglichkeit des Nachgebens?

Polen lebt auf mehreren Ebenen, in vielfachen Gestalten, die nicht so leicht auszumachen und zu entdecken sind.

Krakau mit seinen altösterreichischen Straßen, seiner nahezu italienischen Atmosphäre. Die alte Jagellonenuniversität mit ihrer bewegten Geschichte, die so gegenwärtig anmutet in diesen Tagen. Welche so andere ursprünglichere Bedeutung hat hier ein Wort wie Widerstand oder Freiheit? Nicht weit von hier ist Nowa Huta, das einst so stolz begrüßte, künstlich geschaffene Lenin-Hüttenkombinat, wo an diesem Tag der bei einer Demonstration erschossene Arbeiter Bogdan Wlo-sik zu Grabe getragen wird.

In einem Künstlercafe in der Innenstadt, das sich wenig von einem ähnlichen in Wien, Paris oder Rom unterscheidet, in dem die Mädchen ebenso modisch gekleidet sind, die Männer ähnliche Barte tragen, weiß man es bereits: Es blieb ruhig, es hat keine Zwischenfälle gegeben. Aber die Idee der Solidarität, die sich nicht internieren läßt, war greifbar gegenwärtig, nicht nur in jenen Menschen, die Spruchbänder vorantrugen und deren Schweigen lauter schrie als die Parolen der Friedensmarschierer hierzulande.

Die Marienkirche mit ihrem prachtvollen Veit-Stoß-Altar liegt in dichtem Nebel. Uberall brennen Kerzen. Der jäh abbrechende Trompetenruf des Turmwächters, der an einen Tatareneinfall erinnert, als das warnende Signal durch einen Pfeil, der dem Bläser durch die Kehle fuhr, zum Verstummen gebracht wurde, erhält eine zusätzliche Bedeutung — ist es wieder einmal eine Erinnerung, eine Ahnung von Freiheit, die plötzlich erstickt und ausgelöscht wurde?

Schemenhaft huschen an diesem Abend die Gestalten im Nebel vorbei. Was Fremdheit, was Entfremdung bedeuten könnte, kommt einem plötzlich in den Sinn, aber auch, was Brüderlichkeit bedeuten kann, die sich mitteilt.

Gerade hier, unter der Kathedrale des Wawel, der alten Krönungskirche Polens mit den Gräbern der Piasten, Jagelionen und Sobieskikönige fällt es schwer, Polen nicht als ein Ereignis zu sehen, aus dem deutlich wird, daß es zwischen Gewalt und Lüge ein ebenso untrennbares Band gibt wie zwischen Wahrheit und Gerechtigkeit.

Dieses Ereignis ist Gegenwart, nur zu verstehen aus einer langen blutigen und zerrissenen Vergangenheit und einer ungewissen Zukunft. Polen, so oft verloren und doch nicht verloren, ist dabei, sich in dieser Gegenwart — im Spannungsfeld zwischen Gewalt und Wahrheit—für längere Zeit einzurichten.

Der Autor ist Professor für Philosophie in Wien.

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