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Unterwegs zum „anderen Tirol“

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Die FURCHE bringt aus dem Nachlaß des bedeutenden Erwachsenenbildners Ignaz Zangerle aus aktuellem Anlaß Gedanken über die Realutopie der Einheit Tirols.

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Die FURCHE bringt aus dem Nachlaß des bedeutenden Erwachsenenbildners Ignaz Zangerle aus aktuellem Anlaß Gedanken über die Realutopie der Einheit Tirols.

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68 Jahre sind es her, seit die historisch gewachsene Einheit der ehemaligen „gefürsteten Grafschaft Tirol“ — sie umfaßte deutsch-, italienisch- und ladi-nisch-sprachige Tiroler - als Folge des verlorenen Ersten Weltkriegs der Konkursmasse der untergegangenen österreichischungarischen Monarchie zugeschlagen und zerteilt worden ist. Schon wächst heute im Bundesland Tirol — dazu rechnet auch Osttirol — und in Südtirol eine dritte Generation heran, welche weder (südlich des Brenners) den Volkstumskampf der deutschsprachigen Südtiroler gegen den totalitär auftretenden italienischen Faschismus, noch (nördlich des Brenners) die Dauerkrise der Ersten österreichischen Republik und den halbtotalitären „christlichen Ständestaat“ am eigenen Leib erlebt hat.

Man kann nur auf den Tag hoffen, da mit der Gründung eines europäischen Staatenbundes die immer geschichtswidriger werdenden nationalstaatlichen Souveränitäten durch eine gesamteuropäische Konvention über die Minderheiten eingeschränkt werden. In einer solchen Konstellation wäre sogar ein regelrechtes Condominium Osterreich und Italien über Südtirol denkbar.

In diesem Wartestadium erhebt sich gerade von politischer Seite in beiden Landesteilen der Ruf, um jeden Preis die geistig-kulturelle Einheit aufrecht zu erhalten. Darunter wird in erster Linie das Fortwirken prägender Geschichtserfahrungen bis in die Gegenwart herein verstanden, in unserem Falle der katholischen Restauration, des Barock, der Freiheitskriege und nicht zuletzt der jahrhundertelangen Österreich-Zugehörigkeit.

Dem Begriff einer geistig-kulturellen Einheit haftet aber insofern etwas Hypothetisches an, als Einheit dieser Art in der Realität immer von dem jeweiligen Bewußtseinsstand der Menschen eines Territoriums abhängt, konkret von der kontinuierlichen Uberlieferung bestimmter Werte, Haltungen und Lebensweisen. Diese aber unterliegen einer ständigen Veränderung.

Wie steht es heute um diese Art des Einheitsbewußtseins bei der Mehrheit der Tiroler nördlich und südlich des Brenners? Folgende länderübergreifende Kräfte wirken sich auch kulturell desintegrierend in Gesamt-Tirol aus: die durchgängige Kommerzialisierung des Lebens, die Vorherrschaft des Konsumdenkens, die Herabstufung des Geschlechtlichen zur reinen Trieberfüllung, die Industrialisierung des Unterhaltungswesens, der Massentourismus, der Rückgang des Bauerntums und des Handwerks, nicht zuletzt der fünfte Säkularisierungsschub durch eine Wohlstandsgesellschaft, welche die genannten nivellierenden Strömungen und Phänomene so miteinander verknüpft, daß sie als Ausdruck dieser Wertverschiebung großen Stils angesehen werden können.

Darüber hinaus sind Nord-Tirol wie Südtirol bereits ein Teil der mobilen Dienstleistungsgesellschaft Österreichs beziehungsweise Italiens und einer europaweiten Informationsgesellschaft. Uber die derzeit bestehenden staatlichen Grenzen hinweg wird ganz Tirol von Tag zu Tag mehr wirtschaftlich vernetzt.

Das heutige Bundesland Tirol ist weder „heilig“ noch „heil“. Darüber hinaus macht Tirol eine Identitätskrise besonderer Art durch: Einerseits meint heute der durchschnittliche Sprachgebrauch mit „Tirol“ nur mehr das Bundesland Tirol, wobei immer das zwischen Nord- und Südtirol liegende Osttirol mitgedacht wird. „Südtirol“ aber figuriert nicht mehr als integraler Bestandteil, sondern nur als ein Spezialfall von Tirol.

Andererseits schwindet in Nord-Tirol zusehends das Bewußtsein, daß das Schwergewicht Österreichs in dem von kommunistischen Staaten umgrenzten Osten und Südosten liegt, während man in Südtirol, obwohl Osterreich offiziell als Schutzmacht gilt, von einer wachsenden De-Austrifizierung sprechen muß, wie es ein in Österreich studierender Südtiroler ausdrückte: „Zuerst bin ich Südtiroler, dann Italiener, schließlich Europäer.“

In beiden Landesteilen vollzieht sich, seit das Bauerntum als tragendes soziologisches Element im Schwinden begriffen ist, unter dem Einfluß des Fremdenverkehrs eine Selektierung und Drapierung der sogenannten Volkskultur, als ob diese in erster Linie die geistig-kulturelle Einheit von Nord- und Südtirol repräsentierte. Von dieser Vordergrundkultur distanziert sich in der jüngeren und jungen Generation ebenfalls über die Brenner-Grenze hinweg immer stärker ein „anderes Tirol“ - nicht zu verwechseln mit der politischen Bewegung .Alternative Liste“ in Südtirol —, dessen Aktivitäten in Literatur, Musik und Theater zugleich in scharfem Gegensatz zu jenen der bürgerlichen Hochkultur stehen.

Welche sind die Kräfte und Tendenzen, die bereits heute in Tirol zur Gewinnung eines neuen geschichtsfälligen Einheitsbewußtseins beitragen könnten? Wenn Geschichte Halt auch in Richtung Kultur sein soll, dann wird man sich in Nord- und Südtirol mutig vor allem mit der jüngeren Geschichtsphase, welche als Drittes Reich unser aller leidvolles Schicksal geworden ist, auseinandersetzen müssen.

Dieser Besinnungsvorgang würde zum Beispiel die endliche Anerkennung des Heldentums all jener Tiroler bedeuten, die aus politischen oder religiösen oder aus beiden Motiven der damaligen Tyrannis Widerstand bis zum Tod geleistet haben und gerade darin die Freiheitstradition fortsetzen. Eine solche Gewissenserforschung würde speziell für Südtirol heißen, daß die Nachkommen der „Dableiber“ und der „Außi-geaher“ endlich einander die Hände reichen.

Sehr lange hat man von politischer Seite die Kirche als eine traditionelle Macht eingeschätzt, welche allein durch ihr Dasein auch kulturell einheitsstiftend wirke, ohne zu bedenken, daß sie, weil sie heute weder vom Staat noch von der Gesellschaft gestützt wird, diese Erwartung nicht mehr erfüllen kann. Unter großen Schmerzen wandelt sie sich auch in Tirol von einer „Volkskirche“, der man früher angehören mußte, wenn man sich nicht gesellschaftlich isolieren wollte, zu einer Kirche, für die man sich persönlich entscheiden muß, deren Normen und Forderungen selbst in Tiroler Dörfern nicht mehr selbstverständlich sind.

In beiden Landesteilen hat sich die weltanschaulich pluralistische Gesellschaft etabliert Das typische Gegeneinander und Nebeneinander von Religionen, Weltanschauungen und Ideologien dringt bis in die stadtfernsten Dörfer vor. Es wird dadurch für Durchschnittsmenschen immer schwerer, zwischen Wahr und Falsch, zwischen Gut und Böse, zwischen Recht und Unrecht, zwischen Schön und Häßlich zu unterscheiden. So betrachtet, könnte man von einer Einheit in geistiger Uneinheitlichkeit sprechen.

Dieser Einheit in Defizienz sind offenbar auch die Einrichtungen der Erwachsenenbildung nicht gewachsen. Statt die Erwachsenen gesellschaftlich und politisch, kulturell und religiös-sittlich mündig zu machen, beschränken sie sich allzu oft auf das Anbieten vordergründiger Lebensbrauchbarkeiten.

Soviel ist sicher, trotz gemeinsamer Geschichte bis 1918 und trotz mancher Parallelitäten in der geistig-kulturellen Entwicklung kann von einer solchen Einheit im engeren Sinn des Wortes nicht gesprochen werden. An ihr als einer Realutopie kann nur auf Hoffnung hin gearbeitet werden.

Auf Nord-Tiroler Seite wird man jeden Anschein geistig-kultureller Bevormundung zu vermeiden suchen, dies um so mehr, als wir in wichtigen Bereichen der Kultur, zum Beispiel der Literatur, uns derzeit mit dem übrigen Österreich nicht messen können. Die öffentlichen Mäzene dürfen sich durch die kulturelle Betriebsamkeit, wie sie derzeit in Innsbruck wie im übrigen Tirol in einer weithin gesponserten Kulturszene herrscht, nicht übermächtigen lassen, sondern müssen sorgsam auswählen, was den kulturell aktiven Südtirolern in ihr Konzept passen könnte, und dürfen nicht beleidigt sein, wenn ein noch so gutgemeintes Angebot auf Südtiroler Seite nicht auf Gegenliebe stößt.

Voraussetzung eines Dauerdialogs freilich ist, daß man sich in Südtirol folgender kultureller Uberlebensbedingungen bewußt bleibt: Das allgemeine Bildungsniveau ist durch die Schule und durch eine zeitgeforderte wie zeitüberholende Erwachsenenbildung ständig zu steigern.

Dazu gehört die Erlernung des Italienischen durch jeden Südtiroler, auch wenn derzeit die Italiener in der Erlernung des Deutschen stark zurückbleiben, und die Dreisprachigkeit für die akademisch Gebildeten unter ihnen.

Der Pflege des Hochdeutschen in Wort und Schrift muß stärkste Aufmerksamkeit zugewendet werden, wenn es nicht zu einer „Verelsässerung“ durch trotziges Zurückbleiben in der angestammten Mundart kommen soll. Daß dazu eine tiefgehende religiös-sittliche Erneuerung kommen muß, liegt auf der Hand.

Der Autor, 83jährig am 1. Juli 1987 in Innsbruck gestorben, war einer der bedeutendsten katholischen Erwachsenenbildner Österreichs. Ignaz Zangerle hat sich auch um die Auseinandersetzung mit Dichtern und Dichtkunst große Verdienste erworben.

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