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Urbanisierung ist kein Erfolgsgarant

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Unter den Grundströmungen, die ökonomischen Fortschritt ergeben, und die es gelte, in gesellschaftlichen Fortschritt umzusetzen, nennt Heinz Kienzl in seinem Beitrag „Ökonomie und Ideologie“ in den „Roten Markierungen“ auch die „Urbanisierung“. Wörtlich führt Kienzl aus: „Immer größere Prozentsätze der in Österreich lebenden Menschen werden in Ballungsräumen leben; der Idiotismus des Landlebens, wie ihn Marx genannt hat — die Abgeschiedenheit, heute schon durch Auto, Rundfunk und Fernsehen stark abgebaut —, wird immer geringer werdende Bevölkerungsschichten in seinem Bann halten. Damit ergeben sich größere Möglichkeiten für die Teilnahme an einer schon entstehenden Arbeitnehmerkultur, bessere Möglichkeiten der Teilnahme an den ■ Errungenschaften der Zivilisation...“ Kienzl Iaubt schließlich, daß die ökonomische Tendenz zur Urbanisierung zu einer größeren materiellen Gleichheit führen müsse.

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Unter den Grundströmungen, die ökonomischen Fortschritt ergeben, und die es gelte, in gesellschaftlichen Fortschritt umzusetzen, nennt Heinz Kienzl in seinem Beitrag „Ökonomie und Ideologie“ in den „Roten Markierungen“ auch die „Urbanisierung“. Wörtlich führt Kienzl aus: „Immer größere Prozentsätze der in Österreich lebenden Menschen werden in Ballungsräumen leben; der Idiotismus des Landlebens, wie ihn Marx genannt hat — die Abgeschiedenheit, heute schon durch Auto, Rundfunk und Fernsehen stark abgebaut —, wird immer geringer werdende Bevölkerungsschichten in seinem Bann halten. Damit ergeben sich größere Möglichkeiten für die Teilnahme an einer schon entstehenden Arbeitnehmerkultur, bessere Möglichkeiten der Teilnahme an den ■ Errungenschaften der Zivilisation...“ Kienzl Iaubt schließlich, daß die ökonomische Tendenz zur Urbanisierung zu einer größeren materiellen Gleichheit führen müsse.

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Diese Zukunftsschau ist insofern problematisch, als sie die bevölkerungsstrukturelle, gesellschaftliche, wirtschaftliche und auch kulturelle Entwicklung im Österreich der letzten fünfzehn Jahre außer acht läßt.

Das österreichische Institut für Wirtschaftsforschung weist in einer Untersuchung über die „Veränderungen der regionalen Bevölkerungsstruktur 1961 bis 1971“ (Monatsberichte 10/1971) nach, daß sich der für die Vergangenheit charakteristische Konzentrationsprozeß keineswegs fortgesetzt hat: „Verglichen mit den fünfziger Jahren hat sich das Schwergewicht des Bevölkerungswachstums von den Großstädten auf ihre Umgebungsbezirke verlagert, was das viel stärkere Wachstum kleinerer Gemeinden erklärt. Eine Ausnahme bildet nur Salzburg, wo die Stadt selbst in den sechziger Jahren nahezu ebenso schnell gewachsen ist wie ihre Umgebung ... Die Urbanisierung wurde durch die Suburbani-sierung und die stärkere Akzentuierung der Zentralräume abgelöst. Neben der Bevölikerungsverdichtung in den Regionen vollzog sich eine klein-rkumige Konzentration auf Subzen-tren. Die Hauptrolle der meisten peripheren politischen Bezirke entwi-kelte sich günstiger als ihr Umland ...“.

Diese Tendenz dürfte sich in den nächsten Jahrzehnten fortsetzen: das Reservoir an potentiellen Abwanderen! aus der Landwirtschaft (zwischen 1951 und 1971 wanderten rund 490.000 Erwerbstätige aus der Landwirtschaft ab) ist bedeutend kleiner geworden. Die Bevölkerung in der Bundeshauptstadt wird weiterhin abnehmen, einmal deshalb, weil hier die Zahl der Eheschließungen und die Zahl der Lebendgeborenen weit hinter dem österreichischen Durchschnitt zurückbleibt, aber auch deshalb, weil die BinnenwanderungsgeWinne aus Niederösterreich und dem Burgenland immer kleiner werden und auch die Zuwanderung an Gastarbeitern abnimmt (1973 lag Wien unter den Bundesländern nur noch an sechster Stelle hinsichtlich der Zunahme an ausländischen Arbeitskräften).

Das österreichische „Urbanisierungszentrum“, der „Wasserkopf“ Wien, ein, auf österreichische Verhältnisse bezogen, statistischer Koloß mit jährlich meßbaren Substanzverlusten wird demnach weiterhin an Bedeutung verlieren. Schon jetzt verliert Wien jährlich 0,7 Prozent Wirtschaftswachstum gegenüber dem österreichischen Durchschnitt; seit 1961 ist die Bevölkerung um rund 25.000 zurückgegangen und die Zahl der Erwerbstätigen (infolge Uberalterung Wiens) gar um 50.000. In Wien liegen die Industrieinvestitionen je Erwerbstätigen um rund 30 Prozent unter dem österreichischen Durchschnitt, ebenfalls unterdurchschnittlich ist der Produktivitätszuwachs der Wiener Wirtschaft.

Die Entwicklung der Einwohnerzahl Wiens ist typisch für die Ostregion Österreichs: zwischen 1961 und 1971 nahmen sowohl der 'Bevölkerungsanteil Niederösterreichs als auch der des Burgenlandes an der österreichischen Gesamtbevölkerung ab. Die österreichische Ostregion(Wienj Niederösterreich und Burgenland) verlor in diesem Zeitraum rund zwei Prozent an der Gesamtbevölkerung. Der Anteil der Ostregion an der Gesamtbevölkerung Österreichs lag 1971 bei 44,3 Prozent. Die stärksten Anteilsgewinne buchten in diesem Zeitraum die Bundesländer der Westregion (Salzburg, Tirol und Vorarlberg) mit 1,6 Prozent. Der Anteil dieser drei Bundesländer an der österreichischen Gesamtbevölkerung betrug 1971 16,3 Prozent, liegt also fast genau so hoch wie der Anteil Oberösterreichs an der österreichischen Gesamtbevölkerung.

Die abnehmende Bevölkerungsentwicklung Ostösterreichs korrespondiert mit einem äußerst starren Wahlverhalten. Die Menschen sind hier politisch fixiert, argumentieren noch immer in längst vergangen gedachten Freund-Feind-Vorstellungen und neigen insbesondere in den Industriezonen „Donauösterreichs“ zu einer auch organisatorisch engen Bindung an die Sozialistische Partei und an den Gewerkschaftsbund. Das starre Wahlverhalten ebenso wie die enge organisatorische Bindung dürfte mit materiellen Abhängigkeiten zusammenhängen. Diese Abhängigkeiten äußern sich beispielsweise in Werk, und Gemeindewohnungen, deren Vergabepraktiken nicht isoliert von der Beziehung zwischen Mehr-heitspartei bzw. -fraktion und den „Begünstigten“ zu beurteilen sind. Auch gelegentlich als unangenehm empfundene Abhängigkeiten schaffen im Ernstfall — etwa bei Wahlen — Solidarisierungseffekte. Vor allem in Wien und Niederösterreich wird längst nicht mehr über die Qualität einer Ideologie, eines Programms oder einer Persönlichkeit entschieden, sondern für oder gegen vermeintliche materielle Vorteile, die zumeist mit einem Verlust an politischer Freiheit verbunden sind.

Soweit es sich nicht um die Bewohner agrarischer oder kleinstädtischer Gemeinden in Niederösterreich und im Burgenland handelt, äußert sich' die von Heinz Kienzl als „Arbeitnehmerkultur“ bezeichnete Haltung beispielsweise in der Abkehr vom Eigentumsdenken. Der typische höhere Angestellte etwa der Wiener Gemeinde-„Zentralsparkasse“ hat einen Genossenschaftsanteil an einem Freizeit- und Wochenendzentrum in einem niederösterreichisehen ' Erholungsort. Dort können er und seine Familie die Sportarten höherer sozialer Gruppen betreiben und abends (immer nur) im eigenen Kreis Geselligkeit pflegen. Zwischen dieser Form der Freizeitverwendung und den Geselligkeitsübungen der „Roten Falken“ liegen nur graduelle Unterschiede. Im wesentlichen handelt es sich dabei um sehr eng begrenzte Entfaltungsmöglichkeiten auf höherem Niveau: man imitiert höhere soziale Schichten, vergeudet dabei Energien, ohne den sozialen Sprung zu schaffen.

„Alpenösterreich“ durch Eigentum?

Der sozialen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und auch politischen Immobilität der Bevölkerung in der Ostregion Österreichs steht eine in den genannten Bereichen bedeutend größere Flexibilität der ober- und westösterreichischen Bevölkerung gegenüber, deren Ursache insbesondere in einer viel engeren Bindung an Eigentum, das unabhängiger macht, zu suchen ist. Was dem Burgenländer der Pachtgrund und dem Wiener der Schrebergarten oder die Saisonkabine im städtischen Strandbad ist, das ist für den Innsbrucker die Eigentumswohnung und für den Vorarlberger das Eigenheim. Dabei ist im übrigen die Bereitschaft, Kreditverpflichtungen einzugehen, in den privaten Haushalten Wiens erheblich größer als in den privaten Haushalten Tirols, obwohl diese Haushalte in Wien kaum substantielles Eigentum (wozu in dieser Betrachtung weder eine Genossenschaftswohnung noch ein Personenkraftwagen gerechnet werden) begründen.

Von einer großzentrischen Urbanisierungstendenz, wie sie Heinz Kienzl wahrhaben will, kann heute in Österreich längst nicht die Rede sein. Am Beispiel Wien geprüft, ist das Gegenteil der Fall. Die subzen-trische Urbanisierung in Oberösterreich, Salzburg, Tirol und Vorarlberg schafft ähnliche materielle Startbedingungen, keineswegs aber größere materielle Gleichheit. Diese ähnlichen materiellen Startchancen sind der Ausgangspunkt der im Vergleich zu Ostösterreich größeren gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Dynamik im Westen Österreichs. Überdies orientieren sich die Bewohner in den westösterreichischen Subzentren weniger an der Entwicklung im Wiener „Wasserkopf“ als an der Entwicklung etwa im süddeutschen Ballungsraum mit der so rasch wachsenden Hauptstadt München.

Darin äußert sich keineswegs eine unausrottbare Aversion gegen die „großköpfige“ Bundeshauptstadt, wie man das in sozialistischen Zirkeln Wiens gern behauptet und wofür sich im letzten Bundespräsident-schaftswahlkampf die doch angeblich so ungleiche „Arbeiter-Zeitung“ und „Kronen-Zeitung“ auf ihren Leserbriefseiten als Sprachrohre hergaben, sondern einfach die logische Annäherung an Erfolg und Dynamik. Wien und Ostösterreich ist nun einmal damit nicht reich gesegnet, darüber geben auch die Untersuchungen des Wirtschaftsforschungsinstituts über die Entwicklung der „Österreichischen Wirtschaft nach .Bundesländern“ detaillierten Aufschluß, und mit lässigem „Schmäh“ allein läßt sich keine Strahlkraft erreichen.

Für ein prosperierendes Österreich ist eine stagnierende Ostregion ein Ballast. Die materielle Abhängigkeit von Parteien und anderen Massenorganisationen schafft ebensowenig wie die sich in der Atmosphäre von Gemeindehäusern entwik-kelnde Subkultur keineswegs, wie das Kienzl formuliert hat, „bessere Möglichkeiten der Teilnahme an den Errungenschaften der Zivilisation“. Im Gegenteil: sie verführen zum politischen Desinteresse (bei der Bundespräsidentschaftswahl war die Wahlbeteiligung interessanterweise im politisch durchorganisierten Wien am geringsten) und damit auch zum gesellschaftlichen Rückschritt.

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