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Utopia bekam noch einmal eine Galgenfrist

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Wenn vor den Gerichtsgebäuden Ziegen weideten, wenn Lieder klangen, Kinder schrien und Fahnen wehten, dann wußten die Kopenhagener immer, was drinnen in den grauen Häusern passierte. Dann wurde dort der Fall „Christiania“ verhandelt. Jetzt hat die höchste Instanz ihr Urteil gesprochen. Der Oberste Gerichtshof hat bestätigt, daß die, die in Christiania wohnen, es gesetzwidrig tun; daß der Staat das Recht hat, das Gelände ohne weitere Vorwarnung räumen zu lassen. Doch der Gerichtsspruch bringt nicht das Ende für Christiania. Zumindest noch nicht. Utopia hat in Dänemark nochmals eine Galgenfrist bekommen. /

Christiania kann im Lande Hans Christian Andersens nicht mehr emotionslos diskutiert werden. Die Brille der Weltanschauung ist immer vor den Augen. Für die einen ist Christiania das größte soziale Experiment der Welt; für die anderen die schamlose Ausbeutung des Wohlfahrtsstaates. Irgendwie haben sie beide recht 1

Auf dem Gelände, auf dem heute die Christianitter hausen, hatte einst das Militär seine veralteten Kasernen. Die Soldaten sollten der Sanierung weichen. Wohnanlagen und Grünflächen sollten nach den Vorstellungen der Stadtverwaltung das Milieu in einem der ärmsten Viertel Kopenhagens verbessern. Doch als die Armee ausgezogen war, kamen andere. Ein paar Obdachlose zunächst, Außenseiter, die Unterschlupf suchten, wie sie es oft in zum Abbruch bestimmten Häusern tun. Später kamen mehr Rauschgiftsüchtige und Trinker, die das Dach über dem Kopf vertrunken hatten; kleine Kriminelle auf der Flucht vor der Meldepflicht; Jesus-people, Weltverbesserer und solche, die einfach eine billige Wohnstätte suchten.

Es war die Zeit der „Hausbesetzun-geri“. Die Mode griff auf Dänemark über; Christiania wurde zum Tummelplatz derer, die solcherart die Gesellschaft zu ändern suchten. Die Ideologen gewannen die Oberhand, die roten Fahnen kamen nach Christiania. Die, die sie schwangen, verstanden die buntgemischte Gruppe der Christianitter als die „alternative Gesellschaft“, wo das Kollektiv an die Stelle von „Einzelwesen“ und „Kernfamilie“ treten sollte. Christiania solle sich selbst verwalten, meinten sie, und selbst versorgen. Am 13. November 1971 proklamierten sie die Unabhängigkeit Christianias.

Die Behörden ließen sich Zeit mit ihrer Reaktion. In Dänemark hofft man immer zuerst, daß Probleme sich von selbst lösen. An einer Konfrontation war niemand interessiert. Durch eine gewaltsame Polizeiaktion Märtyrer zu schaffen, widersprach den Vorstellungen aller, mit Ausnahme einiger Christianitter vielleicht. Die schlechten Erfahrungen mit den deutschen und französischen Studentenrevolten waren für Dänemarks Politiker jedenfalls abschreckend genug. So gab man nach einigem Tauziehen im Parlament dem selbsternannten ,.Freistaat“ 1973 offizielle Billigung. Drei Jahre lang sollten die Christianitter bleiben dürfen, sagten die'zuständigen Minister. Christiania bekam die Etikette „soziales Experiment“. Auf die Miete verzichtete der Hausherr, das Verteidigungsministerium. Man setzte nur einen symbolischen Betrag für Wasser und Strombenützung fest. Mehr hätte man ohnedies nicht bekommen.

In den drei Jahren änderte sich einiges in Dänemarks politischem Leben. Es änderte sich auch die tolerante Haltung der Bevölkerung zu Christiania. Der Überdruß mit den Auswüchsen des Wohlfahrtsstaates artikulierte sich in einer Protestbewegung. Mogens Glistrups „Fortschrittspartei“ begann als Anführer der Protestierer ihren Himmelflug. Die Dänen begannen kritischer darauf zu achten, was der Staat mit den vielen Steuerkronen anfing, die sie ihm jährlich ablieferten. Und ganz automatisch kam Christiania als Extrembeispiel des Wohlfahrtsstaates ins Visier der Verdrossenen.

Mit der „Selbstversorgung“ des Freistaates, die einst proklamiert worden war, war es nicht weit her, merkte man rasch. Die Christianitter lebten fast alle von Sozialhilfe und Arbeitslosengeld. Sie nützten also jene „Großgesellschaft“, für die sie sonst nur Verachtung übrig hatten, aus, wenn es ums Nehmen ging. Das machte böses Blut bei den Dänen, die über die hohen Steuern gereizt waren. Sie wollten mit ihrem guten Geld nicht die Utopisten von Christiania erhalten. Andere Argumente kamen rasch hinzu. Christiania gilt als Kopenhagens größte Hehlerzentrale, als vorrangiger Rauschgiftumschlagplatz und als Unterschlupf für Kriminelle. Völlig verwahrloste Kinder, Schlägereien und andere Gewalttätigkeiten bestätigten die Gegner des Experiments in ihrer Haltung.

Sie bekamen offizielle Schützenhilfe. Kopenhagens Stadtverwaltung, die den Sanierungsplan zwar nicht ausgearbeitet, aber auch nicht ad acta gelegt hatte, forderte nach Ende der Dreijahresfrist vom Verteidigungsminister die Räumung Christianias. Minister Orla Möller holte sich gesetzliche Rückendeckung beim Justizminister. Der hieß ebenfalls Orla Möller, denn er hatte die beiden Ämter in Personalunion. Es war der Anfang vom Ende der Karriere des sozialdemokratischen Politikers, der heute abseits der dänischen Politik auf einem NATO-Posten sitzt. Seit seinem Eingreifen in die Christiania-Affäre hatte ihn die „progressive Presse“ bei allem, was er tat und ließ, im Visier.

Die Räumung Christianias war keineswegs unumstritten. Ernstzunehmende Argumente hatte auch die Gegenseite zu bieten. Fachleute aller Schattierungen, Soziologen, Pädagogen, Juristen, Theologen, sie alle verwiesen darauf, daß der Freistaat für Unsichere und Wankelmütige ein Zuhause biete, daß er „entkriminalisierende Wirkung“ habe, weü dort niemand nach Vorstrafen und Leumundszeugnis frage, und daß in Christiania Außenseiter, die sich nicht in die Wohlstandsgesellschaft einordnen konnten, endlich einen Platz gefunden hätten.

Doch die Gegenargumente gegen den anarchistischen Freistaat wogen schwerer. Und schließlich brauchte man das Gelände ja für die Sanierung des Stadtteils Christianshavn. Eine breite Mehrheit im Parlament beschloß, das Experiment nicht zu verlängern. Ende für Utopia. Doch so schnell gaben die Christianitter sich nicht geschlagen. Sie brachten die Sache vor Gericht. Das Argument Christianias: In den Verhandlungen 1973 sei nie von einer Dreijahresfrist die Rede gewesen, die sei erst später eingeflickt worden Die Regierung hätte Christiania den Fortbestand versprochen und wolle nun vor diesem Versprechen davonlaufen - aus Angst vor den „reaktionären Kräften der Gesellschaft“. Außerdem müsse das „lebendige Nutzungsrecht“ der Christianitter mehr wiegen als das „tote Eigentumsrecht“ des Staates. Das Landesgericht wies solche Argumente ab und gab den Räumungsbescheid. Das war im April 1976. Mehr um Zeit zu gewinnen, als aus Überzeugung, appellierten Christianias Rechtsanwälte an das Höchstgericht.

Niemand zweifelte daran, daß das Oberste Gericht den Spruch der vorigen Instanz bestätigen würde. So rüstete Christiania beizeiten zum Kampf. Die Strategen des Freistaates erarbeiteten einen Bereitschaftsplan, den selbst NATO-General Eigil Wolff als „äußerst klug und strategisch durchdacht“ bezeichnete. Eine Telefonkette sollte im „Schneeballsystem“ innerhalb einer knappen halben Stunde 50.000 Sympathisanten in ganz Dänemark verständigen. In Kopenhagen wollte man die drei Brücken, die die beiden Stadtteile über die Kanäle hinweg verbinden, besetzen und so den Verkehr lahmlegen. Uber UKW sollten Aufrufe die Bevölkerung alarmieren. Der große Zusammenstoß zwischen Christiania und der „Polizeimacht“, der nicht wenigen Anhängern des Freistaates gut in ihr Bild gepaßt hätte, schien nicht mehr ausgeschlossen.

War es die Angst vor einer Eskalation, waren es andere Überlegungen, jedenfalls nahm Dänemarks Ministerpräsident Anker Jörgensen dem UrT teilsspruch schon vor seinem Bekanntwerden die Spitze. An eine sofortige Räumung Christianias sei nicht gedacht, erklärte er. Das Parlament müsse beraten und entscheiden.

So wußte man, daß es eine Fortsetzung für den Freistaat geben würde, als die Richter erwartungsgemäß das Landesgerichtsurteil bestätigten. Eine Fortsetzung, die freilich heftig kritisiert wurde. Die bürgerlichen Parteien verwiesen darauf, daß es einen gültigen Parlamentsbeschluß von 1976 gebe, der die Räumung verlangt. Warum als“o nochmals verhandeln? Das Rechtsbewußtsein in Dänemark würde wohl auch nicht gestärkt, meinten sie, wenn das Parlament sich über das Urteil des Höchstgerichtes hinwegsetze. Im Spruch der Richter war allerdings auch eine Passage enthalten, die besagte, daß es nicht Aufgabe des Gerichtes sei, menschliche und soziale ■ Komponenten zi^ berücksichtigen, dafür sei das Parlament zuständig; das sei das Prinzip der Gewaltentrennung. Die, die Christiania gerne geräumt sehen möchten, wiesen auch auf die katastrophalen Verhältnisse hin, die dort hinsichtlich Brandsicherung und sanitärer Anlagen herrschen, und auf die äußerst strengen Maßstäbe, die die Baubehörden überall sonst anwenden, nur nicht im „Freistaat“. Sie fragten, ob es gut sei, daß es in Dänemark eine Stelle gebe, wo man auf offener Straße Rauschgift konsumieren dürfe. Mogens Glistrup meinte, die Christianitter sollten ihre Gesellschaftsexperimente in der frischen Luft Grönlands, abseits der Verlockung der Großstadt durchführen. Doch der wunde Punkt aller Argumente war, daß niemand wußte, was man denn mit den Christianittern anfangen sollte.

So konnte ein nichtssagender Vorschlag des Verteidigungsministers schließlich eine knappe Mehrheit finden. Die Parteien der Linken und die Liberalen schloßen sich ihm mit mehr oder minder großer Begeisterung an. Anhänger hat Christiania im Parlament nur bei den linken Sozialisten und den linken Liberalen. Die Sozialdemokraten stehen dem Experiment zumindest skeptisch gegenüber, die Kommunisten weiden sich zwar an den Schwierigkeiten der „kapitalistischen Gesellschaft“ mit den Außenseitern. Der unorthodoxen, anarchistischen Weltveränderer von Christiania sind jedoch keineswegs das, wovon die Kommunisten träumen, wenn sie an die Zukunft denken.

Der Beschluß, den das Parlament jetzt angenommen hat, besagt nichts weiter, als daß die Christianitter einstweilen bleiben dürfen, wo sie sind. Zwei Jahre wird es nach den Worten des Oberbürgermeisters Egon Weidekamp dauern, bis die Pläne für den Umbau des Geländes endgültig fertig sind. Eine neue Frist steht jedoch nicht im Parlamentsbeschluß. So wird es in zwei Jahren wohl eine neue Debatte über Christiania geben. Einstweüen hat man nur etwas Zeit gewonnen. Und das ist die Methode, mit der Dänemark alle seine Probleme zu lösen sucht, ob es sich um die Wirt-schaftssanierung, die Arbeitslosigkeit, die Energiedebatte oder Christiania handelt

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