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Utopie im Waldviertel

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Die Hochebene rund um Zwettl ist reich an Hügeln. Uber das feuchte Grün der Flachtäler hinweg dringt der Blick bis an die finstere Grenze eines Waldes. Hinter diesem steht die nächste Baumgruppe; an ihr vorbei sieht man am Horizont das kompakte Blaugrün einer bedeutenden Waldung, und so geht es immer weiter auf Böhmen zu.

Dieses waldreiche Land kann seinen Mann längst nicht mehr ernähren. An der toten Grenze stirbt der Handel; der Boden ist karg, die Arbeit hart; man produziert mit viel Mühe, auch mit hohen Kosten Feldfrüchte, Fleisch, Milch, Eier - das alles gibt es ohnehin in Hülle und Fülle: der Markt ist überfüllt. Wohin also mit dem Waldviertier Bauern? Sollte er abwandern, seine Heimat dem Wald überlassen? Die Möglichkeit ist denkbar geworden: Ein geschlossener Nordwald, Luft- und Holzlieferant, als Nationalpark von Menschen besucht, die die Einsamkeit lieben. Ist das die Lösung?

Mehr als heute gibt der Boden nicht her, und es ist Unsinn, das Vieh noch weiter zu überzüchten: die verfeinerte überlange Sau gibt zwar Fleisch, überlebt aber einen längeren Transport nicht, die Melkkuh bricht zuerst alle Rekorde und sackt dann tot zusammen; Herzinfarkt.

Langlebiger wurde der Landwirt, und auch das bringt Probleme mit sich. Er sieht keinen Grund, die Wirtschaft dem Sohn zu überlassen, und dieser ist dann mit vierzig immer noch Knecht seines Vaters oder er zieht in die Stadt. Dort kann er sein eigener Herr sein. Nicht immer kehrt er zurück; eines Tages muß der Va-terdann doch aufgeben; die Erben sind abwesend, der Hof verödet.

Die Lage drückt auf das Gemüt. Das Volk dort oben hatte kein leichtes Leben, neigt nicht zur Leichtigkeit, spürt die Schwere des Schicksals, will und kann aber das alles nicht formulieren. Wortkarg tut man eben, was zu tun ist, und wenn es nichts nützt? Irgendwie ist es immer weitergegangen, wer mit dem Leben nicht fertig wird, flieht in ein anderes Leben, wer nicht fliehen kann, darf auf ein gnädiges Ende warten. Die Seelen durchwandern gleichgültig den Tag, die Wochen, die Jahre; wie gelähmt.

Es gibt aber im Waldviertel einen Mann, dem diese Lage der Dinge mißfällt. Er ist in einem Dorf neben Zwettl geboren, hat bereits als Kind nolens volens die

Beschaffenheit der Waldviertier Armut studiert, hat dann noch einiges dazugelernt und ist heute Direktor der landwirtschaftlichen Fachschule Edelhof. Der Landeshauptmann hat ihm außerdem den Auftrag gegeben, das Waldviertel zu reformieren. Er ist dabei.

Adolf Kastner hat auf die grundlegende philosophische Frage (des Waldviertels? unserer Zeit?) eine praktische Antwort gegeben. Er will die dumpfe Quantität, die niemand haben will, durch Qualität ersetzen. Nordwald oder Mustergarten? Eine dritte Möglichkeit gibt es nicht.

Er ist ein vitaler Mann, vielleicht Mitte fünfzig, Kerl und Macher, dabei nachdenklich, sanft im Fragen, gründlich im Uberlegen, ein Prophet der agrarischen Reform und wie jeder wirkliche Prophet nicht aus eigenem Antrieb Träger der Prophetenrolle, sondern der Not gehorchend. Er fühlt, daß es so nicht weitergehen kann. Er weiß, daß zur Herbeiführung einer wirklichen Wende die Schule allein nicht genügt, sie kann das geistige Zentrum sein, braucht aber Menschen, die die Ideen aufgreifen, weiterführen, in den bäuerlichen Alltag übertragen. Also ist die Schule zugleich Sitz eines Vereines, die Absolventen bleiben dem Edelhof verbunden, stellen weitere Verbindungen her. Adolf Kastner hält diese locker gewobene und lebendige Organisation für lebenswichtig.

Die Revolution der Qualität gegen das Quantum: dieser Grundsatz meint vor allem den Geist, wie er sich in der Grundhaltung bemerkbar macht. Geist vermag auf falsches Prestige zu verzichten. Durch Eitelkeit werden bedeutende finanzielle Mittel fehlgeleitet. Adolf Kastner zitiert genau:

„Wir kaufen Dinge, die wir nicht brauchen, mit Geld, das wir nicht haben, um Leuten zu imponieren, die wir nicht mögen.”

Er hat sich mit dem Boden und der Witterung des Waldviertels befaßt, mit den gegebenen Möglichkeiten agrarischer Wirtschaft, mit der Lethargie der Bauern, die Jahr für Jahr zunimmt, mit der herkömmlichen Produktion eines Bauernhofes und mit den Möglichkeiten, das unverkaufbare Quantum durch neue Qualität zu ersetzen.

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Im Mustergarten des Edelhofes sind Pflanzen zu sehen, die das Leben im Waldviertel nach und nach verändern könnten: Leinsamen, Flachs, Kümmel, Mohn und Heilkräuter, unter ihnen die Ringelblume und die Weinraute.

Roggenpollen wird in die Schweiz verkauft, von dort für die pharmazeutische Industrie nach Schweden gebracht. Im Edelhof wurde ein technisches Verfahren entwickelt mit dem Ziel, den Pollen vom blühenden Roggen abzutrennen; die Schule dient auch auf anderen Gebieten als eine mechanische Werkstatt, in der neue Ideen verwirklicht werden. Notgedrungen? Nein, Adolf Kastner will seinen Schülern zeigen, daß sie Erfolg haben können, daß der Erfolg an sich kein metaphysischer Begriff ist, der den Wald-viertler Bauern versperrt bleibt, sondern ein Sieg des planenden, hoffenden, energisch anpackenden Geistes. Wenn einmal die Schüler des Edelhofes gelernt haben, selbst Hand anzulegen und Erfolg zu haben, werden sie, sobald sie auf ihre Bauernhöfe zurückgekehrt sind, nicht so bald in die im Waldviertel so verbreitete Lethargie versinken.

Neben Leinsamen, Flachs, Kümmel, Mohn, Ringelblume, Weinraute, Roggenpollen hat im Vokabular von Adolf Kastner der Begriff Qualität auch einen anderen Namen. Auch in diesem Fall formuliert der Prophet genau:

„Das Waldviertel ist das Erholungsgebiet für Wahnsinnige.”

Mit den „Wahnsinnigen” sind die Eliten gemeint, Einzelgänger, die hier Ruhe suchen, die psychisch allzu sehr in Anspruch genommenen Macher, die man Manager nennt, die sich hier in kühlen menschenleeren Wäldern ergehen können, als wären sie in Finnland. Adolf Kastners Rechnung ist ebenso einleuchtend wie faszinierend. „Vorarlberg hat für den Fremdenverkehr 186.000 Betten zur Verfügung. Im Waldviertel gibt es 6.000.” Hier gilt es, den quantitativen Nachteil in einen Vorteil der Qualität umzustülpen. Und wenn das der Prophet so da-hinerzählt, spüren wir in der Tat die großen luftreichen Räume, die jedes dieser 6.000 Betten mit viel Sauerstoff umgeben, aber nicht nur mit Sauerstoff, sondern auch mit dem Geruch der feuchten, nach Norden duftenden Wiesen, mit dem Spiel der schwankenden Schatten am Rand eines Waldes und mit der geheimnisvollen Finsternis der sich gegen Böhmen ausbreitenden kühlen Waldungen, die Adalbert Stifter mit großer Genauigkeit beschrieben hat. Es ist, nach den Ethnologen, der südlichste Punkt, an dem der Rübezahl jemals gesichtet wurde.

Das Waldviertel braucht Hilfe. Diese muß vor allem im Geiste liegen: geistlos ausgegebene Gelder würden bloß die gegenwärtige Notlage verlängern. Der Geist, den wir brauchen, hat sich rund um Adolf Kastner gesammelt. Er ist durch Geburt mit diesem Stück bäuerlichen Lebens verbunden und steht dennoch in der Tradition all der Denker, die ihren Weg gesucht haben - mühsam und nicht ohne Krampf —, den Weg, zur Scholle zurückzukehren. Wenn man das Wort Scholle niederschreibt, ist man geneigt, gleich an die Nationalsozialisten zu denken, aber diese haben in dieser Tradition nichts zu suchen. Hinter Adolf Kastner stehen - ob er es wahrhaben will oder nicht — die Schüler Gandhis, und hinter denen die Anhänger Tolstojs, und hinter den Anhängern Tolstoj s jene russischen Narodniki, die im „verrückten Sommer” des Jahres 1874 „ins Volk gegangen sind”, um das damalige Rußland durch eine Vereinigung von Qualität und Quantität zu ändern. Noch in den zwanziger Jahren waren es die Anhänger dieser Bewegung, die sich der gewaltsamen Kollektivierung der Landwirtschaft widersetzten.

Adolf Kastner ist kein Mann der falschen Romantik, er denkt nicht an vergangene Schwärmereien, sondern an die Zukunft, und zwar hic et nunc, im Waldviertel, vor die Aufgabe gestellt, eine handfeste Krise mit subtilen Mitteln zu meistern. Allein durch Qualität ist das Waldviertel zu retten, durch edle Gewächse, verfeinerte Methoden, originelle Ideen. Nur das Waldviertel? Oder ist auch in anderen Landstrichen, auf anderen Gebieten ähnliches im Gange? Zeigt uns am Ende Adolf Kastner, fast ohne es zu wollen, den Weg zur Revolution der Qualität?

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