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Variationen zur Figur des Lazarus

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Das frühe, jüngst neu bearbeitete Prosastück des bekannten Autors, die Auseinandersetzung mit einem biblischen Thema, erscheint in seinem neuen Sammelband „Zwischen allen Sesseln" (Hannibal -Presse, Wien).

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Das frühe, jüngst neu bearbeitete Prosastück des bekannten Autors, die Auseinandersetzung mit einem biblischen Thema, erscheint in seinem neuen Sammelband „Zwischen allen Sesseln" (Hannibal -Presse, Wien).

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Die Falten um ihren Mund sind tiefer geworden. Ihre Augen schauen weit weg (durch ihn durch). Komm herein, könnte sie (ohne Tonfall aber) gesagt haben. Vielleicht ist ihr Haar ergraut unterm schwarzen Tuch. Martha. Die ältere Schwester. Und doch noch so jung. Damals. Vor kurzem. Da hat sie lachen können. Jetzt schlägt ihm kein Lachen entgegen, sondern ihr Schweigen. Wärst du doch hier gewesen. Warum bist du zu spät gekommen?

Die Kühle im Haus ist ihm immer ein Aufatmen gewesen. Jetzt fällt sie ihn an von verhängten Fenstern her. Er fröstelt, zieht seinen Umhang enger um sich. Bleibende Schatten rußen die Kerzen an den Plafond. Davor Maria. Die jüngere Schwester. Gebeugt und erstarrt. Maria, das Mädchen. Wo ist ihre Armut? Verdunkelt auch sie. Er will ihre Hand nehmen. Die Hand, die ihn gesalbt hat. (Liebkosend gesalbt.) Aber sie läßt sie ihm nicht. Sie wendet sich ab.

Noch (gerade) in der Veränderung Ähnlichkeit. Die ungewohnt hohen Stirnen: Da ahnt man die Schädelknochen unter der Haut. Ähnlichkeit mit ihm, der jetzt bald fertig haben wird mit Hilfe der Natur woran wir alle arbeiten unser Lebtag. Mit ihm, der jetzt irgendwo da draußen liegt, in Tücher verpackt (gefesselt), hinterm Stein.

Du hättest sagen können, was üblich ist, nicht sagen können. Das denkt er später im Zimmer, das nun frei ist für ihn. Die Läden des Fensters leisten Widerstand. Die Gegend liegt flacher denn je, die Erde fließt (verlogen?) in den Himmel.

Die Schrift, in der er gelesen hat, wieder und wieder. Er, der nun draußen liegt, wie kurz, wie lang. Die Schrift, die er gedeutet hat, er, der noch hier ist, wie lang, wie kurz. Und seine Botschaft ist eihe frohe gewesen. Diese Krankheit ist nicht zum Tode, leichthin gesagt. Euer Bruder'wird aufer-stehn, lächerlich. Ja, das wissen wir, glauben wir, aber was nützt das? Jetzt, da er tot ist. Wie soll man nicht zweifeln? Verzweifeln?

Auch die Schwestern (er spürt's durch die Wände) sind schlaflos. Ihre Gesichter, die er sich vorstellen muß. Anderen hast du geholfen. Zwei gleichlautende Vorwürfe. Ehemals zwei gleichlautende Hoffnungen. Er war dein Freund.

Und ist nicht auch er (der Bruder) voll Hoffnung gewesen? Seit damals, da draußen im Garten, wo jetzt der Kauz schreit? Da sind sie gesessen bei Brot und Salz, Oliven und Wein. Doch damals war Tag. Jetzt ist Nacht. Eine sternlose Nacht.

Da hast du ihnen gesagt, was du wahrhaben willst. Wenn wir lieben, werden wir alle geliebt. Da sind sie an deinen Lippen gehangen (zu dritt). Und dann ist Maria innig vor dir gekniet. Und dann (ein Zufall? Ein schönes Beispiel:) die Fliege. Schwarzviolettes Schimmern, metallisches Summen. Und das Gelenk das du rasch noch umfaßt (jetzt wird es verdorren). Nicht! — Warum nicht?—Darum: kein Tod ist sinnlos!

Demzufolge auch kein Leben, aber das ist lange her, daß er das gesagt hat. Gesagt hätte: einen halben Tag, eine Ewigkeit. Vergangen wie Rauch, verloschen wie Glut, wie Gras verwelkt. Wärst du doch früher gekommen. Zurecht gekommen.

Früher. Zurecht. Als da noch kein Zweifel war.

Wie damals, als er hinunter ins Wasser steigt. Der ihm behilflich ist, findet sich dessen nicht wert. Und ER? Dementiert er? Nein. Er sagt: Laßt es gut sein.

Und später, als er in Ketten liegt, jener Prophet. Und sie, seine Freunde, kommen, um ihn zu fragen. Ob sie noch warten sollen (auf einen andern). Geht hin, sagt er, und erzählt, was ihr seht und hört. Blinde sehen und Lahme gehen, sagt er. Selig, wer glauben kann. Ja. Vor allem er selbst. Er spürt eine große Kraft, die ausgeht von ihm. Blutflüssige Frauen, wenn sie bloß sein Gewand anrühren, werden gesund.

Nur: als er wochenlang in der Wüste ist. Da sieht er manchmal die ganze Welt vor sich. Und fürchtet zuweilen, die ganze Zeit zu sehen ...

Brot ist ihm da die geringste Versuchung gewesen.

Aber (Versuchung) ein Licht zu schlagen aus Deinen Steinen. (Herr!) Ein Feuer zu quirlen aus totem Holz. Ein Feuer. Tatsächlich. Er wollte, es brennte schon. Daß Deine Nacht, die uns alle umfängt, zerspringe vor Hitze.

Die Nacht, in die Du Adam hinausgestoßen hast und seine Frau.

Die Nacht, in der Du Hiob allein gelassen hast.

Die Nacht, in der einer draußen jetzt friert / nicht mehr frieren darf.

Die Nacht, die den nicht schlafen läßt, der sie denkt (mich).

Die Nacht, die auf uns zufällt von jeher / immer schon da ist: Nacht auf dem ölberg.

Die Nacht über Golgatha, die möglicherweise endlose (Gott, warum hast Du mich verlassen?).

Die Alptraumnacht über 'Jerusalem, dem wieder aufzubauen verbotenen.

Die Nächte der ungezählten Seuchen und Kriege.

Die Nächte der Erdbeben und Hungersnöte. Die Nächte der sterbenden Kinder.

Die trostlosen Nächte der weinenden Frauen und Mütter.

Die Nacht, in der sie mich zwingen, ja zu sagen, wenn ich nein will.

Die Nacht, die ich weiß nicht was mit Kristallen zu tun hat.

Und die ganz normale Nacht, die sie Alltag nennen, ohne Aussicht auf Dämmerung.

Und die apokalyptische Nacht, die keinen Namen (weil kein Erinnern) mehr braucht.

Daß der Morgen da ist, ändert nichts. Seine Farbe (sandweiß, kalkweiß) ist Farblosigkeit. Der Boden ist aufgesprungen fürs Wasser, aber der Himmel verdunstet. Der Blick ermüdet an schwarzen Kleidern und Tüchern. Deren sind heute mehr als jene der Schwestern. Denn daß er sich hinführen läßt, der gekommen ist, zu dem, der gegangen ist (von uns und im Frieden), das spricht sich herum. Das macht nicht nur Fenster auf seinem Weg entlang. Man folgt ihm (verfolgt ihn). Da schaut er sich lieber nicht um.

Vor ihm wird ein Gitter geöffnet, dann ausgehängt. So viele wollen dorthin, wo sie ohnehin enden. Harre ich gleich lang, so ist doch bei den Toten meinHaus und in der Finsternis mein Bett. Was soll ich denn hoffen und wer achtet darauf? — Sie drängen an ihm vorbei, der nun kaum mehr vorankommt. Und formen die Gasse, die er zu gehen hat. Die Gasse zum Stein, in welchem der Name bleibt. Doch was bleibt dahinter? Aus Staub bist du geworden, zu Staub sollst du werden.

Ist das so? Er ergrimmte, heißt es, in seinem Geist.

Kann das nicht anders sein? Er ergrimmte, heißt es, in seinem Herz.

Und die Augen gingen ihm über, heißt es.

Siehe, sprachen sie alle, so lieb hat er ihn gehabt.

Ja, Vielleicht war es so. Er hat gespürt, daß sie etwas von ihm erwarten.

Konnte er, der dem Blinden die Augen aufgetan hat, nicht verschaffen, daß auch dieser nicht stürbe? (

Da ergrimmte er, heißt es, abermals in ihm selbst.

Ja, vielleicht war es so. Er hat gespürt, daß sie alles von ihm erwarten. Einfach alles.

Oder auch nichts. Nichts mehr. Wie die beiden Schwestern. Martha, Maria. Ja, besonders Maria. Die jetzt sehr aufrecht dasteht (nicht mehr gebeugt). Die dir entgegensteht als eine Anklage (die Schultern wollen spitz durchs Kleid). Sie. Das Mädchen. Sie hast du am tiefsten enttäuscht. Sie, die sich vor dir erniedrigt hat. Sie, die dich dadurch erhöht hat. Meister, du bist es!

Die Berührung ihrer Hände, der Geruch der teuren Salbe, das Offnen und Fallen ihres Haars... Das hat sich als Furche gespiegelt in der Stirn ihres Bruders. Und selbst ihre fröhliche Schwester war plötzlich sehr ernst. Vor wem ist zu knien, außer vor dem Ewigen, es sei denn vor seinem Gesalbten? Was hast Du darauf gesagt? So laßt sie gewähren. Es steht euch wohl an zu feiern, so lange der Bräutigam unter euch ist.

' Der Bräutigam! Ja. IHR Bräutigam. Ein Versager! Ein Scharlatan, oder? ANDEREN hast du geholfen. Weit weg. Woanders.

Glaube kann Berge versetzen. Liebe kann Berge versetzen. Hast du gesagt.

Herr, wenn es möglich ist, laß ... (aber IST es denn möglich?)

Bist du wahrhaftig der, dann ... (aber BIN ich denn der?)

Aber ich weiß, daß meine Rächer ... (WER weiß das wirklich?)

Herr, nicht DEIN Wille geschehe, sondern der UNSERE!

Hebt den Stein weg!

Befremden. Erschrecken.

Laßt mich ihn sehn!

Ein Achselzucken. Ein Kopfschütteln. Tuscheln. Murmeln.

Nicht, sagt Martha, er stinkt schon, er liegt schon vier Tage.

Doch er beharrt auf seinem / auf ihrem Wunsch.

Und dann fällt der Schatten des Todes heraus aus dem Schacht. Stille gebietend. Da tritt man zurück. Da macht man Platz.

Er aber (Jesus) geht im entgegen und ruft:

Lazarus, ruft er, Lazarus, komm heraus!

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