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Venedig, Nachmittag, sanftes Licht

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Das milde Licht des Nachmittags liegt wie ein feines, weißes Gewebe über der Stadt, die Luft ist feucht, ein leichter Wind kommt vom Meer her und bewegt sanft das Wasser, ein Hauch von Himmelsblau zittert auf der Oberfläche, kleine Wolken ziehen wie helle Nebelschwaden über den Horizont, versinken, verschwinden, die Leute in den Gassen sind still, scheinen sogar heiter und gelassen, niemand geht hastig, und nur einem sehr genau beobachtenden Menschen wäre aufgefallen, daß eine alte Dame um einiges stiller, heiterer, gelassener unterwegs ist als die anderen.

Noch immer liegt ein Glanz früherer Schönheit auf ihren Zügen, sie ist zurückhaltend aber nicht billig gekleidet, in der Rechten eine altmodische Ledertasche, auf dem Kopf einen Strohhut, der sicherlich auch noch aus der Vorkriegszeit stammt; langsam spaziert sie am Glockenturm vorbei, überquert den großen Platz, geht durch die schmalen Gassen bis zur ersten Brücke, die über den meistbenützten Kanal der Stadt führt, bleibt stehen, setzt sich schließlich auf eine Bank — sogar hier eine Spur von Blau auf dem Wasser.

Der Himmel ist nun klarer, drüben wird ein Fenster geöffnet, ein Sonnenstrahl wird vom Glas aufgefangen. Geblendet schließt sie die Augen. So alt mußte ich werden, denkt sie, jetzt bin ich den Achtzig schon näher als den Siebzig, und zum ersten Mal in meinem Leben allein unterwegs. Sie öffnet wieder die Augen und tut eine Weile nichts anderes, als den vorbeifahrenden Booten nachzublicken, Lastkähnen mit buntem Obst, und einen Moment lang scheint der Geruch des Meerwassers dem Duft der Äpfel zu weichen, Booten mit Ziegelsteinen, mit Schotter.

Sie steht auf, geht über die Brücke, hält in der Mitte an, lehnt am Steingeländer, die Handtasche fest unter den Arm geklemmt, man hört ja so viel von Dieben, die Sachen einfach aus der Hand reißen sollen, sie schaut den Wolken nach und denkt wieder, ja, als Mädchen war ich immer mit meinen Eltern unterwegs, später mit Stefan, danach mit Freundinnen, warum wollte ich nie allein sein? Sie richtet sich auf, überquert die Brücke, geht drüben am großen Kanal entlang bis zum alten Zollamt, dort ist ein kleines Cafe, und von einem der Tische davor kann man nicht nur den Hauptplatz der Stadt sehen, sondern auch die Inseln mit den Kirchen, ein bequemer Korbsessel ladet ein, sie setzt sich, der Kellner kommt, einen Kaffee, sagt sie, er nickt, bringt ein wenig später die Tasse und ein wenig Milch, sie trinkt, lehnt sich zurück, schaut über das Wasser zum alten Palast. Ihr Blick wandert die Uferstraße entlang, dann hinüber zu den Inseln, graublau schimmern die Kirchen, die Kuppeln, die Türme, darüber der helle Himmel, der Wind, sie träumt ein wenig dahin, denkt dann wieder, glücklich bin ich, weil mir plötzlich meine Gegenwart genügt, und mit einem Mal weiß ich auch, warum mir früher der Mut zum Alleinsein fehlte, ja, weil ich immer Sicherheit wollte, immer Angst hatte, mir könne etwas weggenommen werden, mein Besitz, mein Leben.

Dann steht der Kellner wieder neben ihr, sie blickt auf, noch einen Kaffee, sagt sie, und ein Stück Kuchen, der Kellner nickt, geht, wo war ich stehengeblieben, überlegt sie, natürlich, meine Angst, meiner Habe und meines Lebens wollte ich sicher sein, warum eigentlich? Ihr Atem geht nun etwas schneller, sie hebt die linke Hand über die Augen, um sich vor den Strahlen der bereits tieferstehenden Sonne zu schützen, schaut über das Wasser, sieht den großen Palast, sieht die Bauleute, die ihn vor vielen hundert Jahren errichtet haben, sieht die Reihe der Fürsten, die ihn bewohnten, jeder einzelne eingeprägt der Stadt, und auch drüben im anderen Land, alle leben sie, und tot ist man doch nur, wenn man spurlos ging, nie liebend und nicht einmal hassend. Glücklich bin ich, denkt sie, hinübersehen zu können, spät im Leben, aber doch, und dann weiß sie plötzlich jenseits des Denkens, daß es immer nur der Tod war, den sie all die Jahre hindurch gefürchtet hat und vor dem sie sich schützen wollte, sie lächelt, so lange bin ich ein Kind gewesen, jetzt eben nicht mehr.

Als der Kellner mit dem zweiten Kaffee und dem Kuchen kommt, meint er, sie wäre eingeschlafen, mit offenen Augen, wie das alte Leute doch manchmal tun, er stellt die Tasse lautstark auf den Tisch, um seinen Gast zu wecken, er beginnt, mit ihr zu reden, als sie nicht antwortet, schüttelt er ihre Schulter, erst sanft, dann immer stärker, — Gott, warum rührt sich die nicht? —, aber der nun schon sehr blasse Kellner kann sie nicht mehr wecken; die Augen bereits leer aber noch immer über das von einem leisen Wind bewegte Wasser nach Osten gewandt, ist sie schon senr weit weg und weitergegangen.

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