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Verdrängte Analogie

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Was hat man nicht alles gefeiert, was hat man nicht alles - teils freudig, teils traurig - erinnert in diesem vergangenen Jahr 1976! Doderers Todestag vor zehn Jahren und seinen Geburtstag vor 80. Die Volkserhebung in Ungarn vor 20 Jahren. 100 Jahre Bay- reuther Festspiele. 200 Jahre Vereinigte Staaten, 200 Jahre Burgtheater. Und immerhin auch, 1000 Jahre Babenberger. Kaum - also eigentlich überhaupt nicht - gedacht aber hat man des Jahres, in dem das siechende Römische Weltreich offiziell, und noch dazu in einem Vorgang von unerhörtester Banalität, liquidiert, die staatsrechtliche Kontinuität des Imperiums gleichsam durch einen Federstrich beendet worden ist, indem Odowaker anno 476, vor 1500 Jahren also, den letzten weströmischen (und damit doch noch gesamtrömischen) Kaiser Romulus Augustulus buchstäblich in die Frührente geschickt hat.

„Wer hub es an? Wer brachte den Fluch?“ fragt Hölderlin (in anderem, allgemeinerem Zusammenhang); und er läßt ahnen: „Von heut / Ists nicht und nicht von gestern, und die zuerst / Das Maß verloren, unsre Väter / Wußten es nicht, und es trieb ihr Geist sie.“ Der Anfang vom Ende mag also schon gekommen sein, als, im 2. Jahrhundert vor Christus, die republikanische „Tugend“, dank der die Römer die Weltherrschaft errungen hatten, sich den ökonomischen Folgen der Weltherrschaft nicht mehr gewachsen zeigte.

Unter außenpolitischem Aspekt hingegen mag man den Anfang vom Ende in der von Augustus initiierten Defensiv-Strategie erblicken, welche- was Caesar ein halbes Jahrhundert zuvor noch gewußt hatte! - zwangsläufig zur politischen Konsolidierung und militärischen Organisation der benachbarten barbarischen, nämlich noch nicht bewußt politisch denkenden und noch nicht bewußt militärisch handelnden Volksstämme fuhren mußte.

Die für später, für die Zeit seit dem 2. Jahrhundert nach Christus namhaft gemachten Verfalls- und Zerfallserscheinungen - Dirigismus bei zunehmender wirtschaftlicher Dezentralisation und schließlicher Autarkiebe-

Strebung selbst winzigster Räume; Verlust der Währungsstabilität zwischen Inflation und Deflation; gigantische Bürokratisierung mit entsprechender Korruption einerseits, mit entsprechendem Steuerdruck anderseits; Entvölkerung erst des Landes und dann auch der Städte; militärisch die Wehrlosigkeit gegen Invasoren: von den Markomannen über die Sas- saniden bis zu den Goten und Hunnen; kulturell das Versanden der Poesie und besonders der Historiographie; die irrationale Hoffnung in fremde, vornehmlich asiatische Kulte, vom simpelsten Aberglauben über Isis und Mithras bis zum Christentum mit seiner frühen Sektiererei -, all diese Phänomene waren gewiß nicht mehr erste Ursachen, sondern schon Wirkungen, freilich als weitere Ursachen weiterhin wirkend an der Erzeugung jener totalen Lebensunlust, in der das Weltreich buchstäblich versunken ist, sang- und klanglos sich aufgelöst hat: offiziell, wie gesagt, anno 476, vor 1500 Jahren.

Wenn wir Heutigen dieses Datum geflissentlich ignorieren, dann doch gewiß nicht wegen der Spanne Zeit, die uns davon trennt; von den folgenden Zeitläufen wissen wir nämlich oft sehr viel weniger. Wahr scheint doch eher zu sein, daß das Bild des verendenden Rom uns fatal bekannt vorkommt: nicht bis ins letzte Detail, natürlich, aber in vielen charakteristischen Zügen: wie man im Urenkel doch noch den Urahn entdeckt. Wir wissen zwar, daß Geschichte sich nie exakt wiederholt; doch wir fürchten und flüchten uns vor der hier offenkundigen Analogie.

Und diese beginnt ja schon bei den frühesten Ursachen: zeigt sich schon darin, daß das christliche Abendland seine wissenschaftlich-technische Weltherrschaft sozial nicht einmal im Innern, geschweige denn in den Kolonien verkraften hat können, woraus der Sozialismus, gegen den vom 19. Jahrhundert bloß materiell verstandenen Fortschritt eine Idee des

Fortschrittes setzend, sein Kapital geschlagen; und zeigt sich schon, seit 1917, in dem Verzicht auf aktive Außenpolitik, so daß, was als „freier Westen“ vom christlichen Abendland heute noch übrig ist, nicht mehr agiert, sondern bestenfalls nur noch reagiert, und auch das nur mehr schwächlich und inkonsequent, weil keine verbindliche Wertordnung mehr die pluralistischen Willenstendenzen auf ein gemeinsames Ziel hin vereinigt.

Doch auch einzelne Züge ähneln einander frappierend; die Analogie setzt sich fort in deh Folgeerscheinungen wie: in dem schwindenden Wehrwillen nicht nur im Frieden, in den verhängnisvoll halben Maßnahmen während dem Krieg (wie in Vietnam); in der Absage an den Universalismus, konkret in dem Separatismus selbst kleinster Einheiten (etwa der Basken); im Geburtenrückgang; im stilistischen Chaos der Künste, im Sprach- verfall zwischen der unverbindlichen Formlosigkeit und der eben so unverbindlichen Esoterik; in ökonomischen Abstraktionen (vom Fetisch des Wirtschaftswachstums bis zum Fetisch der Planerfüllung), die weder den menschlichen Bedürfnissen noch den natürlichen Gegebenheiten Rechnung tragen; und nicht zuletzt - und da gleichen sich beide Bilder aufs Haar - in der unheiligen Dreifaltigkeit von Bürokratie, Korruption und Steuerdruck.

Und endlich: was damals das Christentum war, ist heute der Sozialismus, der sich weder in seiner Geschichte (mit Fraktionskämpfen bis zum Schisma) noch in seiner Organisation (als Kaderpartei, mit dem Papst in Moskau) noch in Taktik und Strategie (von der Infiltration bis zum Kreuzzug, mit der Lehre rasselnd und mit dem Säbel argumentierend), der sich also nicht wesentlich von der durch Jesus begründeten Religion unterscheidet - jedenfalls nicht mehr aus heutiger Sicht, da selbst Bischöfe schon ihre ganze scholastische Bildung daran wenden, die (ihrer Natur nach ewige) Heilserwartung als (logischerweise endliche) Zukunftserwartung gesellschaftspolitisch praktikabel zu machen. Das Manko an Transzendenz provoziert dann natürlich den Aberglauben: einerseits den an die Heiligkeit, an das absolut Wahre, an den Dogmen-Charakter der sozialistischen Theorie, und zwar einschließlich der von der Zeit überholten und der von der Wissenschaft längst widerlegten Axiome und Thesen; und anderseits, Opium des sozialistischen Volkes, den Aberglauben an (gleichzeitig) Astrologie und Transquilizer. Ganz - nein: nur fast ganz - wie im alten Rom…

Denn viele „römische“ Dekadenz- Erscheinungen des Westens zeigen sich, manchmal sogar in größerem, gröberem Ausmaß, auch in der Sowjetunion und deren Satelliten: der Bürokratismus vor allem, aber auch grundfalsche ökonomische Kalkulation, auch Geburtenrückgang, auch eben die Lebensunlust schlechthin. Die Konvergenztheorie bestätigt sich, wenn auch auf seltsame Weise: Jeder der zwei Opponenten übernimmt von dem andern das Negative, während China, als lächelnder Dritter, die reine Lehre pflegt von der permanenten Revolution, dem Gegensatz zum Bürokratismus. (Allerdings hat es so etwas wie wechselseitige Korrumpierung auch schon zwischen alteingesessenen Römern und integrierten oder okkupierenden Barbaren gegeben.)

Nicht vergleichbar ist auch, zum Beispiel, die Art, in der das Christentum und der Sozialismus zur Staatsreligion geworden, wenngleich sogar da auch etwas Verwandtes anklingt: Im geteilten Imperium blickte das christ liche Byzanz auf das heidnische Rom überheblich und feindlich herab wie jetzt im geteilten Europa der moskowi- tische Kommunismus auf die bürgerlich-reaktionäre Sozialdemokratie des Westens. Ja, von Peking her muß es tatsächlich so aussehen, daß Moskau zur Zeit nur ein neues Byzanz ist: den Westen zuerst überlebend, doch letztlich nur, um mit ihm zusammen zuerst moralisch und dann auch politisch zu sterben oder, wahrscheinlicher, schlicht zu verkümmern als Kolonie, als touristische Attraktion vielleicht dank seiner Fülle exotischer Altertümer.

Aber auch ohne jedwede spekulative Vision bleibt genug zu fürchten; und zwar am meisten, daß wir vor dem, was wir fürchten, flüchten - sogar vor dem Datum schon: 476, welches uns doch auch ermutigen könnte: In dem damals üblichen Morden ist Romulus, zwar nur mehr Kaiserlein, aber noch immer Symbolfigur des Imperium Romanum, am Leben gelassen und fürstlich versorgt, ja sogar noch einmal, 477, von Odowaker kurzfristig reaktiviert worden, um die in ihm personifizierte, nach so langer und glänzender Tradition noch nicht ganz gebrochene, immer noch wirksame Autorität zu borgen gegen den oströmischen Kaiser Zenon.

Ja mehr noch: im Heiligen Römischen Reich wie im Römischen Katholizismus und sogar in Details (im Heerwesen, in der Jurisprudenz, nicht zuletzt in der Sprache) haben Prinzipien Roms das Imperium überdauert. Was stark war, geht in der Geschichte nie mehr verloren, wirkt weiter über die Enden äußerer Macht hinaus, um parat zu sein, wenn es gebraucht wird: um zu gegebener Zeit wieder aufgegriffen, verwandelt, erneuert zu werden. Und eben jetzt, da Rußland und China im Streite liegen, hätte die Stunde des neuen Imperiums, des Demokratischen Reiches Europäischer Nation, geschlagen. Aber anscheinend wollen wir nieht mehr die Erben, nur noch die Epigonen des alten Rom sein: lethargisch wartend auf unser eigenes 476.

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