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Verdrängte Konflikte

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Nach mehreren Anläufen (Lohn-Preis-Abkommen, Wirtschaftdirektorium) übernahmen in Österreich 1959 paritätische Kommissionen, bestehend aus Regierungs- und Interessenvertretern, die Funktion einer halboffiziellen Nebenregierung. Während der Periode bürgerlicher (ab 1966) und sozialdemokratischer (ab 1970) Alleinregierung entwickelte sich daraus ein privilegiertes, nichtöffentliches Medium außerparlamentarischer Konsensbildung.

Vermittels realer Machtteilung zwischen den Parteien und Interessenverbänden bestimmt diese Form der Regelung aller ökonomischen und sozialen Konflikte die herrschende politische Kultur: Streiks sind in Österreich rar, Aussperrungen unbekannt, Aufmärsche jenseits sozialdemokratischer Mai-Kundgebungen und katholischer Fronleichnamsprozessionen selten geworden.

Politisch motivierte Gewalttätigkeit ist heute praktisch inexistent, „Radikalenerlaß" ein deutsches Fremd-Wort. Nur ein einziges Mal forderten innenpolitische Auseinandersetzungen ein Menschenleben...

Verteilungskämpfe finden in Österreich vornehmlich am grünen Tisch statt. Im Gegensatz zu anderen Ländern kann sich dieses System sozialpartnerschaftlicher Regelungen bisher die Aufrechterhaltung politischer, wie ökonomischer Stabilität als spezifische Leistung gutbuchen und dadurch Loyalitätsverluste auf ein Minimum beschränken.

Die direkte staatliche Kontrolle über die wichtigsten Infrastruktureinrichtungen und über ein Fünftel der Produktion, die indirekte Beeinflussung des privaten Sektors mittels verstaatlichter Banken, durch Subventionen und geförderte Kredite, sowie über Aufträge der öffentlichen Hand sind dabei nur eine Bedingung für das Funktionieren der Sozialpartnerschaft.

Die zweite Bedingung ist das Vorhandensein starker Interessenvertretungen. Diese verfügen in Österreich über eine anderswo unbekannte Organisationsdichte: Sechs von zehn unselbständig Erwerbstätigen sind Mitglied der Einheitsgewerkschaft (ÖGB); acht von zehn arbeiten in einem Betrieb, der der Unternehmer-Vereinigung angehört; einer von drei Haushalten ist Mitglied, d. h. Miteigentümer einer Konsumgenossenschaft; mehr als ein Drittel der Wähler besitzt ein Parteibuch; fast 90 % wählen stets dieselbe Partei.

Die meisten erwachsenen Österreicher sind überdies kraft Gesetz beitragspflichtiges Mitglied einer berufsständischen Körperschaft öffentlichen Rechts (Kammer). Monopolcharakter hat auch die Position der katholischen Kirche und ihrer Vorfeldorganisationen: sie vertritt de jure 86 %, tatsächlich etwa ein Drittel aller Österreicher.

Die permanente Ausblendung zentraler Interessenskonflikte in wichtigen Medien diskursiver Bewußtseinsbildung, bei gleichzeitigem Fortbestand des Konfliktpotentials, fordert ihren Preis. Ihn zahlt alltäglich ein Teil der Betroffenen, der Vertretenen.

Die Höhe dieses Preises läßt sich nicht messen, wohl aber anhand einiger Indikatoren schätzen: Alkoholismus als Volkskrankheit, Selbstmordraten, die Zahl der Strafgefangenen und der Zwangspsychiatrierten pro 1000 Einwohner; auch diese Werte liegen in Österreich deutlich über dem westeuropäischen Durchschnitt. Das Fehlen breiter Diskussionsprozesse und Auseinandersetzungen bewirkt zum anderen auch einen deutlichen Mangel an demokratischer Toleranz gegenüber Minderheiten jeder Art: Kärntner Slowenen, Gastarbeiter, kritische Zeitgenossen, jüdische Mitbürger.

Nicht minder bezeichnend ist das Fehlen einer eigenständigen liberalen Partei. Wohl reklamieren heute alle wichtigen Strömungen den politischen Liberalismus für sich; dennoch stand und steht seiner Etablierung nicht bloß die Schwäche des Besitzbürgertums, sondern auch die Immobilität der herrschenden opinion publique entgegen.

Nicht ohne Grund verfügt Österreich heute weder über eine liberale Tageszeitung vom Format der Vorbilder „Cor-riere della Sera", „Le Monde", „Süddeutsche", „Washington Post" oder „Neue Zürcher Zeitung", noch über Boulevardblätter von der Aggressivität etwa der „Bild-Zeitung". Dennoch weist es eine höhere Presse-Konzentration auf als seine Nachbarn.

Grund hiefür ist sicherlich auch eine gewisse Provinzialität des österreichischen Kultur- und Geisteslebens, worin der Aderlaß der Jahre 1933-1945 bis heute nachwirkt. Freud, Adler, Morgenstern, Lazarsfeld, Reinhardt, Kraus, Friedeil, Kisch, Polgar, Werfel, J. Roth, Horvath, Viertel, Schönberg, Berg, Eissler, Schlick, Wittgenstein, sie alle haben nach 1945 in Österreich keine Generation legitimer Erben gefunden, wohl aber Mäzene, die jedem von ihnen ein Ehrengrab, einen Gedenkstein, ein Museum, einen Straßennamen besorgten.

Aus: LEBENSVERHÄLTNISSE IN ÖSTERREICH. Von Marina FischerKowalski, Josef Bu^ cek (Hrsg.), Verlag Campus, Frankfurt, 1980,530 Seiten. öS 446.60

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