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Verdrängung ist zuwenig

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Christlich hätten sich in den langen Zeiten der Monarchie Moral und Politik im Idealtyp des christlichen Königs treffen müssen. Nun gibt es zwar heiliggesprochene Könige, wie Karl den Großen und Ludwig IX., aber ihre Heiligkeit hält der kritischen Prüfung nicht stand. Thomas Morus ist als Heiliger glaubwürdig. Er war aber nicht König, sondern nur Kanzler eines solchen. Wenn es der Politik gutgeht, dann wird die Moral leicht als belächelter Moralismus abgetan.

Gegenläufig dazu ist der Wunsch nach dem Politiker als moralisches Vorbild: heute nicht schwächer als irgendeinmal, zumal es ja mit der Politik nicht gut geht. Freilich findet dieser Wunsch selten seinen Kennedy, der zu halten scheint, was er verspricht, und lehnt sich gern in genereller Enttäuschung und generellem Korruptipnsverdacht von der Politik und den Politikern ab.

Parallel dazu läuft eine starke Moralisierung dieser Politik. Sie geht zurück bis in die sechziger Jahre, in denen die radikale Infragestellung westlicher und östlicher Gesellschaftssysteme für eine ganze Generation relevant wurde. Diese Generation ist jetzt im öffentlichen Bereich stark präsent: als Politiker, Journalist, Künstler, Lehrer. Sie trägt weitgehend auch die aktuellen Protestbewegungen: die Friedensbewegung und die politisch orientierten Umweltschutzbewegungen.

Die zunehmende Radikalisierung von Wertfragen in Politik und Gesellschaft hat objektive Gründe: Es ist das Ausmaß, die Quantität der Probleme, vor allem aber die geringe Zeit, die zu ihrer Lösung zur Verfügung steht. Krise der Gesellschaft und der Kultur wird im Bewußtsein vieler Menschen als Katastrophe erlebt.

Es scheint höchst notwendig, den so skizzierten Prozeß des öffentlichen Lebens einmal von seiner Innenseite her zu sehen. Was bedeutet die Dauermobilisierung des Gewissens für den einzelnen Menschen?

Die Mobilisierung der Angst vor einem gefährlichen System, die Totalisierung der Probleme und die Absolutsetzung eines kurzen Zeitrahmens zu deren Lösung hat schon in den sechziger Jahren bei nicht wenigen jungen Leuten — und man sagt, es seien gerade die sensibelsten gewesen — in die Logik des Terrorismus geführt, der als „Gewalt gegen Sachen“ begann und bei der „Gewalt gegen Menschen“ endete. Der Überdruck heutiger Moralisierung der Politik drängt nach Entlastung. Als eine Möglichkeit da zu bietet sich die verbreitete Verdrängung der Probleme an. Dies allerdings ist eine unproduktive Entlastung.

Eine produktive Art von Entlastung wäre das Vertrauen. Das kann ein innerweltlicher, ein sozusagen philosophischer Glaube daran sein, daß Politik im großen und ganzen eine Chance auf Erfolg hat — Vertrauen als eine Art von Wette im Sinn der chinesischen Fabel von den zwei Fröschen, die in einen Milchtopf gefallen sind. Der eine gibt auf und ertrinkt. Der andere strampelt weiter und sitzt schließlich geborgen auf einem Butterberg. Das produktive Vertrauen kann auch jener religiöse Glaube sein, den ich vertrete. Hier wird geglaubt, daß die private und kollektive Geschichte auch durch etwaige Apokalypsen hindurch auf eine gute Ernte aus ist.

Aus diesem philosophischen und mehr noch aus dem religiösen Vertrauen entspringen Haltungen, die heute und morgen besonders wichtig wären:

1. Eine mit Trägheit nicht zu verwechselnde Gelassenheit, die neuerdings Peter Handke auf folgende Weise angesprochen hat: „Es ist schon recht, nicht mehr dahinzuträumen, aber weckt einander doch nicht mit Hundegebell!“

2. Eine Askese, die man sich leisten kann, wenn man glaubt, daß die Geschichte noch weiter geht bzw. daß sie nach ihrem Ende bei Gott aufgehoben wird. Wer solches nicht glaubt, wird sehr versucht sein, das Leben unasketisch auszunützen, auszupressen, auch auf Kosten anderer — nach der vom Apostel Paulus einigen seiner Zeitgenossen unterstellten Lebensmaxime: „Laßt uns essen und trinken, denn morgen sind wir tot!“

3. Humor ist schließlich auch ein Ausdruck von Vertrauen.

4. Schließlich wäre der Kompromiß zu rehabilitieren. Der deutsche Philosoph Max Müller hat dazu vor kurzem eine Studie veröffentlicht, in welcher über Wert und Würde einer bestimmten Art von Kompromiß abgehandelt wird. Müller grenzt diesen guten Kompromiß vom faulen ab und merkt an: „Wenn der Kompromiß nur funktionell in seinem Nutzwert betrachtet und gesetzt wird, so „verfault er immer …“

Es gibt heute wahrscheinlich zu wenig Politiker und zu viele Voyeure. Der außerhalb einer Kirche stehende Gesellschaftskritiker Daniel Bell hat kürzlich gesagt: „Was wir heute dringender brauchen als Propheten, das sind Priester.“ Unter Propheten versteht er wohl Analytiker und Ankläger bestehender Zustände. Mit dem hier sehr weit gefaßten Wort Priester spricht er jene an, die zugreifen und gestalten. Wir alle sollten etwas davon sein.

(Gekürzt aus „Fidibus" 2/83)

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