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Verdrängung und ideologische Fixierung

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„Geschichte zu kennen, ist subversiv", hat Friedrich Heer gesagt. Dieser Gefahr weicht die österreichische Zeitgeschichte allerdings hartnäckig aus. Das betrifft weit mehr als die NS-Zeit die Erste Republik, und hier vor allem den Ständestaat. In eigenartigem Gegensatz vereinigen sich dabei Verdrängung und ideologische Fixierung. Ganz besonders trifft das auf Engelbert Dollfuß zu, der am 4. Oktober hundert Jahre alt geworden wäre.

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„Geschichte zu kennen, ist subversiv", hat Friedrich Heer gesagt. Dieser Gefahr weicht die österreichische Zeitgeschichte allerdings hartnäckig aus. Das betrifft weit mehr als die NS-Zeit die Erste Republik, und hier vor allem den Ständestaat. In eigenartigem Gegensatz vereinigen sich dabei Verdrängung und ideologische Fixierung. Ganz besonders trifft das auf Engelbert Dollfuß zu, der am 4. Oktober hundert Jahre alt geworden wäre.

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So wie Kurt Schuschnigg auf sein „Gott schütze Österreich" im März 1938 reduziert wird, erfolgt diese Reduzierung bei Dollfuß auf den „Arbeitermörder" des 12. Februar 1934 einerseits und auf seine Ermordung als „erster Widerstandskämpfer" gegen Hitler am 25. Juli 1934 andererseits. Das kann nicht nur dem unehelich geborenen Bauernsohn aus Texing in Niederösterreich, der es zunächst zum Landwirtschaftsminister und schließlich zum Bundeskanzler von Österreich brachte, nicht gerecht werden, es schafft auch erstaunliche Lücken und Verzerrungen, die bis heute Bedeutung haben.

Oder ist es ein Zufall, daß eine ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Agrarreformer Dollfuß zwar durch Ulrich Kluge in der BRD („Bauern, Agrarkrise und Volksernährung in der europäischen Zwischenkriegszeit", 1988) und James William Miller in England („Engelbert Dollfuß als Agrarfachmann", 1989) erfolgte, nicht aber in Österreich? Ist Agrarpolitik in einem Land, wo die Landwirtschaft nach wie vor eine dominierende Rolle spielt, so uninteressant?

Für die genannten ausländischen Autoren steht die Bedeutung des Agrarpolitikers Dollfuß jedenfalls außer Zweifel. Miller, der Dollfuß' Sympathien für die katholische Soziallehre Papst Leo XIII. in der Enzyklika „Rerum Novarum" betont: „Sein unerschrok-kener Einsatz für das Wohl des österreichischen Bauernstandes während eines der schwierigsten Jahrzehnte dieses Jahrhunderts ist bisher allzu oft von Bürgerkrieg und Nazi-Putsch überschattet worden. Zweifellos verdient seine zwölfjährige Tätigkeit im Dienste der österreichischen Bauernorganisationen eine tiefere Würdigung.

Zum Erfolg dieser Jahre gehören die Schaffung einer Sozialversicherung für Landarbeiter, ein weitverzweigtes Netz von landwirtschaftlichen Genossenschaften und eine ganze Reihe von Programmen, die darauf angelegt waren, den Agrarmarkt zu regeln und der österreichischen Landwirtschaft eine solide Grundlage zu vermitteln." Allerdings: „Die Art und Weise, wie seine Regierung die politische Krise der Jahre 1933 und 1934 handhabte, trug wesentlich dazu bei, die Österreicher noch tiefer zu entzweien, als die Konflikte der späten zwanziger Jahre dies ohnehin schon getan hatten."

Für Ulrich Kluge hatte Dollfuß „als Agrarpolitiker europäisches Gewicht. Das Originelle an Dollfuß war, daß er versuchte, über

das Nationale, das Regionale hinaus, eine europäische Lösung anzustreben. Hier war er eine eigentlich visionäre, einsame Erscheinung. Als engagierter Sozialpolitiker im ländlichen Bereich stand Dollfuß links von der Mitte, als Verfassungspolitiker stand er weit rechts." (Kluge in einem Interview im Frühjahr 1992).

An diesem „weit rechts" erhitzt und erschöpft sich die Auseinandersetzung zwischen Bürgerlichen und Sozialdemokraten in Österreich bis heute. Die These des Wiener Politologen Gottfried-Karl Kindermann in München („Hitlers Niederlage in Österreich", 1984), Dollfuß wäre der erste Widerstandskämpfer gegen Hitler gewesen, ist zwar auf einigen (positiven und negativen) Widerhall gestoßen, wird aber auch von bürgerlichen deutschen Historikern nach vielen Diskussionen eigentlich nicht akzeptiert. Ulrich Kluge: „In einem Punkt bin ich der Meinung von Prof. Kindermann: daß der Putsch im Juli 1934 gescheitert ist, war die erste Niederlage Hitlers."

Kein Faschist

Aber auch die Diskussion um den „Faschisten" Dollfuß könnte längst beendet sein. Selbst der sozialdemokratisch engagierte deutsche Historiker Hans Mommsen lehnt diese Bezeichnung für Dollfuß ebenso ab wie die Bezeichnung, .Austrofaschismus" für den Ständestaat: „Der Ständestaat war ein autoritäres Regime wie das von Miklös Horthy in Ungarn oder Pilsudski in Polen. Das Regime von Dollfuß war die Wiederauferstehung der josefinistischen Autokratie mit pseudofaschistischen Mitteln. Dollfuß ist als .Halbdiktator' in der öster-reichisch-josefinistischen, beamtenstaatlichen Tradition steckengeblieben."

Eine Einschätzung des Politikers Dollfuß bleibt jedoch vielschichtig. Auch nach der Ausschaltung des

Parlaments war er von den Sozialdemokraten bis zum Februar 1934 nie recht ernst genommen worden. Ulrich Kluge sieht ihn als „Notlösung, als Krisen- oder Übergangskanzler, der schnell egomanische Züge angenommen hat". Der Sohn des damaligen Heimwehrführers Ernst-Rüdiger Starhemberg erinnert sich an Erzählungen seines Vaters: „Dollfuß und mein Vater waren die besten Freunde. Dollfuß hat eher gezögert, das Parlament aufzulösen

und den Ständestaat auszurufen, mein Vater hat ihn unter dem Einfluß Mussolinis dazu gedrängt. Dollfuß ist in der christlich-sozialen Partei zwischen dem parlamentarischen und dem autoritär ausgerichteten Flügel meines Vaters geschwommen". (Interview im Sommer 1992)

Fritz Bock, Funktionär der „Vaterländischen Front" der ersten Stunde, sah als damals Zwanzigjähriger in Dollfuß „den starken Gegner des Na-tionalsozialismus und dessen Politik als antinationalsozialistische Politik. Als Bundeskanzler kamerwieein.deus exmachina'. Erwar nicht sehr geduldig, anderen zuzuhören. Er hat schon andere Meinungen akzeptiert, auch Kritik, aber langes Herum-reden wollte er

nicht. Er hat immer rasch zusammengefaßt und gesagt ,so machen wir es'." Und weiter: „Dollfuß war kein blendender Redner, aber er war volkstümlich, hatte viel Zulauf, ohne daß die Leute auf den Inhalt achteten. Die Leute haben gewußt, das ist einer von uns, das ist einer aus dem Volk. Später hat mich vieles bei Leopold Figl an Dollfuß erinnert, da war das auch so." (Interview im Frühjahr 1992) Übrigens wäre Leopold Figl am 2. Oktober neunzig Jahre alt geworden.

Und Maximilian Liebmann, Vorstand des Instituts für Kirchengeschichte und Leiter der Abteilung für Theologiegeschichte und kirchliche Zeitgeschichte in Graz, sieht in Dollfuß einen „vielfach Getriebenen der Heimwehr, der auch seine christlichsoziale Partei aufgelöst hat. Er war besessen von seiner Idee des christlichen Ständestaates, hat aber einerseits die Kraft der Sozialdemokraten und der Nationalsozialisten unterschätzt, seine eigene Kraft jedoch überschätzt. Seipel hat über ihn gesagt, „der hat so viele Ideen, die man nicht verwirklichen kann". Als Realpolitiker war Dollfuß oft naiv und abhängig von anderen, hatte aber keine gute Menschenkenntnis und hat zu lange Leuten vertraut, die seine Gutgläubigkeit ausgenützt haben. Das trifft vor allem auf Emil Fey zu."

12. Februar 1934

Maximilian Liebmann hat sich anhand von Quellen und Dokumenten mit dem 12. Februar 1934 und mit der Haltung von Dollfuß eingehend befaßt. In seiner Feststellung, der „Arbeiteraufstand" war in Wahrheit nur die Revolte eines Teiles des Republikanischen Schutzbundes, die gegen den Willen der sozialdemokratischen Partei erfolgte, kann er sich auch auf Karl Kautsky berufen. Bis weit in den Februar 1934 hinein suchten die demokratisch gesinnten Parteiführer der Christlich-Sozialen und

der Sozialdemokraten nach einem Kompromiß, eine Lösung schien sich abzuzeichnen: die von den Sozialdemokraten gestellten unverzichtbaren Bedingungen vom 29. Jänner 1934 bestanden nur noch im allgemeinen Wahlrecht und im Koalitionsrecht und wurden von Dollfuß' Seite öffentlich als Bedingungen bezeichnet, die keine Türen zuschlagen.

Blutschuld Dollfuß'

Gegen diesen möglichen Kompromiß opponierte nicht nur der radikale Flügel des Schutzbundes unter Richard Bernaschek, sondern auch der des radikal rechts stehenden Heim-wehrflügels unter Innenminister Emil Fey. Beide planten eine Provokation, die in dem trotz Verhandlungen mißtrauischen politischen Klima voll aufging.

Maximilian Liebmann: „Hier beginnt der erste große Fehler von Dollfuß und seiner Regierung. Dollfuß hat gesagt, er wäre von Fey falsch informiert worden, daß es sich nämlich um einen österreichweiten Aufstand der Sozialdemokraten handelt. Deshalb wurden über siebentausend Leute verhaftet, die sich fast alle von der Revolte distanzierten und daher auch freigelassen wurden. Der zweite Kapitalfehler war die Blutschuld, die Dollfuß und der Ständestaat durch die Hinrichtungen auf sich geladen haben, darüber gibt es nichts zu diskutieren. Den Hinrichtungen haftete deutlich der Makel von Haß und Rachegelüsten an."

Mit dieser Ansicht, mit der Maximilian Liebmann im bürgerlichen Lager immer auf Widerstand stößt, trifft er sich mit Fritz Bock: „Die Verurteilungen waren begreiflich, aber die Hinrichtungen waren politisch falsch, diese politischen Todesurteile waren ein großer Fehler. Und es ist auch ein großer Fehler, 4aß darüber in der ÖVP nicht offen gesprochen wird."

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