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Verdrossenheit als Identität

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Die DDR erträgt ihr eigenes Bild nicht.“ Er darf es sagen. Heiner Müller, Ostberlins Nationalpreisträger erster Klasse, zur Zeit meistbeschäftigter Theaterregisseur dies- und jenseits des Brandenburger Tors.

Der 60jährige, der hinter dem „antifaschistischen Schutzwall“ arbeitet - wie die Mauer, dieses scheußliche Bauwerk, das Berliner von Berlinern trennt, von den Erbauern nach wie vor bezeichnet wird - dieser Künstler beteuert, ohne die Mauer könne er gar nichts zu Papier bringen.

Ein Schabernack? Oder einfach ein Lebenskünstler? Denn kein Geringerer als sein ehemaliger

Zensurobermeister Johannes R. Becher, früherer Kulturminister und Verfasser der Nationalhymne „Auferstanden aus Ruinen“, gesteht in seinen Memoiren, er selbst sei mit dem, was er als neue sozialistische Gesellschaft aufbauen wollte, nicht zurechtgekommen.

Im anspruchsvollen Literaturblatt „Sinn und Form“ lesen wir: „Der Grundirrtum meines Lebens bestand in der Annahme, daß der Sozialismus die menschliche Tragödie beende und das Ende der menschlichen Tragik selbst bedeute. Das Gegenteil ist der Fall. Es ist so, als habe mit dem Sozialismus die menschliche Tragödie in einer neuen Form ihren Anfang genommen. Der Sozialismus hat erst die menschliche Tragik in Freiheit gesetzt. Wer vom Sozialismus träumt und schwärmt als von einem Erdenparadies und einem Glück für alle, der wird furchtbar belehrt werden.“

Sätze, die auch in der DDR eine neue Zeit einleiten? Des Volkes Stimme verneint und klagt: Im 40. Lebensjahr steckt der „andere deutsche Staat“ in einer Midlife

Crisis und die Genossen in den Wechseljahren.

Die greise Führungsgarde um Staats- und Parteichef Erich Honecker mache keine Anstalten, in Pension zu gehen und Gorbatschow-Freunden Platz zu machen. Dem Volk bleiben nur die Witze, die im „Arbeiter- und Bauernstaat“ Hochkonjunktur haben. „Welches Land hat die größte Küche?“ lautet eine Scherzfrage. Antwort: „Die DDR. dort gibt es 17 Millionen Gerüchteköche.“ Jeder spekuliert, weiß aber wenig.

Seitdem im letzten Herbst das bunte sowjetische Monatsmagazin „Sputnik“ auf den Index gesetzt wurde, da es sich zunehmend mit politischen Themen beschäftigte und nicht icehr auf Spuren von Schneemenschen wandelte

Witze im Arbeiterstaat oder schmackhafte Kochrezepte anbot, wie weiland unter Bresch-njew, ist der Unmut sprunghaft angewachsen. Denn gerade im Medienbereich wird die Situation immer grotesker. Kommen zum einen russische Spielfilme nicht mehr in die Kinos, werden jetzt die Banner „Von der Sowjetunion lernen, heißt siegen lernen“ ersetzt durch Honecker-Ehrungen.

Und in der jüngsten Ausgabe des Jugendblattes „Junge Welt“ üest man Ausführungen, die einfach nicht mehr zur Zeit passen:

„Was bedeutet Pressefreiheit? Auf keinen Fall das, was uns bürgerliche Ideologen pausenlos einzureden versuchen. Pressefreiheit gibt es dort, wo jeder alles sagen darf? Auch wenn es der große Schwachsinn ist? Also, es wäre schlimm, wenn bei uns Lügen verbreitet werden dürfen oder bürgerliche Ideologien.“ Und blättert man ein paar Seiten weiter, findet man eine Ceausescu-Rede, die vor Binsenwahrheiten geradezu strotzt: Es gehe bergauf, bergauf dem Sozialismus entgegen, wiederholt der rumänische Diktator Satz für Satz. 300 Zeilen weiter werden ihm Lobeshymnen gewidmet, daneben - als Kontrast - eine Achtzeilenmeldung „Solidarnošč registriert“.

Und da der DDR-Bürger jede Emeuenmg aus Bukarest zu Gehör bekommt, zu Polen und Ungarn aber mit der Lupe die Kleinmeldungen zu suchen hat, schaltet er auf bundesdeutsche Radio-imd Fernsehsender. Sie sind in den meisten Haushalten der Republik pausenlos eingeschaltet.

Frust und Suff

Nicht wenige Ostberliner wissen aus der Werbung genauer als jeder Westbewohner, was auf der kapitalistischen Insel nebenan in diesem oder jenem Supermarkt als Billigware ausgelegt wird. Interne Parteistudien belegen, durch die Reizflut wachse weniger der Unmut als die Apathie. So wachsen auch Frust und Suff.

Mittlerweile ist der Spirituosenverbrauch in der DDR dreimal so hoch wie in Osterreich: 10,7 Liter reiner Alkohol pro Kopf und Jahr.

Westreisen, seit zwei Jahren das löchrige Ventil, in dessen Genuß manch einer hin und wieder kommt, ein anderer wiederum nie, doch keiner von beiden dafür je eine Erklärung zu finden vermag, sollen die Verdrossenheit dämpfen (siehe Graphik oben). Mit gegenteiliger Wirkung: Die Westreisen zeigen den Bürgern, was eigentlich möglich sein könnte — ein freieres Leben.

„Ausreiseanträge“ werden gestellt. Ostberliner Kirchenkreise sprechen von 300.000 bis 400.000 Anträgen zur Ubersiedlung nach Westdeutschland, Bonner Quellen gar von bis zu einer Million Antragstellern - bei 17 Millionen Einwohnern.

Wo bleibt da die nationale Identität rechts der Elbe? Auf dem letzten Kirchentag in Halle hieß es in einer Predigt, es gäbe in der

DDR zwei kleine Minderheiten, die wüßten, was sie im Lande wollen: die überzeugten Marxisten und die gläubigen Christen. Dazwischen eine riesige Mehrheit, die nur durch ihre deutliche Distanz zu beiden ihre Verdrossenheit und Gleichgültigkeit zeige.

„Wir leiden keine materielle Not, gewiß nicht“, sagt der kirchliche Friedensaktivist Carlo Jordan vom „^etzwerk Arche“. „Uns plagt die politische Not - und die drückt schwer im Magen.“ Und nach einer Gedankenpause fügt der studierte Philosoph hinzu: „Erst wenn wir unsere eigene Lage ertragen, zu ertragen lernen, können wir in unserem Land eine Heimat sehen - doch wieviel Anstrengung wird es dazu noch bedürfen?“

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