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Vereinigung in irischer Armut

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Zuerst die Stille der Waffenruhe — dann der hinterhältigste aller bisherigen Anschläge: man lockt die Menschen mit der Warnung vor einer Explosion eben dorthin, wo es dann geschieht. Das Schweigen und das ihm folgende Entsetzen, vor allem aber das Schweigen der Waffenruhe, war eine Machtdemonstration. Der Abscheu über die jüngste Tat in Belfast, die sechs' Menschenleben kostete, sollte allerdings nicht hindern, die Lage zu sehen, wie sie ist.

Denn härter als eine noch so entsetzliche Serie von Bombenanschlägen und Hinterhalten stieß die Stille dieser Waffenruhe Nordirlands ohnmächtige Machthaber und ihre Schutzherren in London sowie in den britischen Armeelagern in Nordirland auf die Tatsache, daß die IRA Die Lage in Nordirland bestimmt. Die Verkündung einer mehrtägigen Waffenruhe durch die IRA war ein meisterlicher taktischer Schachzug. Die Stille, die eintrat, zerstörte alle jene Illusionen, die auf den Generalnenner gebracht werden können, die IRA sei gar nicht die straff geführte Organisation mit eiserner Disziplin, als die sie so gerne erscheint, sondern mehr ein Name für ein Sammelsurium von Gruppen und Aktionen, dessen man eines Tages nach dem Rezept des divide et impera werde Herr werden können.

Das beliebte Rezept des Teilens und Herrschens wird, das hat der Waffenstillstand eindringlicher vor Augen geführt als alles ihm vorangehende Blutvergießen, in Nordirland nicht anzuwenden sein. Ohne die IRA ist in Ulster jegliche Politik so irreal wie in Südvietnam ohne den Vietkong. Die Parallele ist allerdings nicht weiter auszuspinnen, denn eines ist die IRA mit Sicherheit nicht: Sie ist kein verlängerter Arm der südirischen Politik.

Wobei immer vom sogenannten provisorischen Flügel der seit längerem gespaltenen IRA die Rede ist, der die Wiedervereinigung der Insel mit Gewalt und ohne Rücksicht darauf, wie viele Menschenleben sie kosten mag, erzwingen will. Der „provisional wing“ der IRA hat den „official wing“, den „offiziellen“, zu mehr oder weniger gewaltlosem Vorgehen neigenden Flügel nahezu zur Bedeutungslosigkeit als politische Kraft verurteilt, die Politik des Bürgerrechtskampfes blieb im unbarmherzigen Prozeß der Polarisierung auf der Strecke. Noch vor zwei Jahren hätte Nordirlands protestantisches Regiment Ulsters Unabhängigkeit retten können — hätte es etwas mehr Einsicht, sprich Re-formdynarnik, gezeigt. Dazu ist es zu spät. Die Regierung in Belfast ist zum Untergang verurteilt.

Angesichts der Tatsache, daß im katholischen Lager Ulsters die radikalsten, rückhaltlos zur Gewalt entschlossenen Kräfte das Gesetz des Handelns in die Hand genommen haben, wirkt jeder Gedanke an eine Kompromißlösung längst unrealistisch, und seit der Machtdemonstration namens Waffenruhe erst recht. England ersehnt nichts so sehr wie einen Kompromiß, der „Official wing“ wäre — ohne den Druck des „provisional wing“ — sicher vorerst mit einer protestantisch-katholischen Koalitionsregierung zufrieden, und auch Dublin ließe zweifellos gerne mit sich reden, läge nicht so sonnenklar zutage, daß es auf diese Weise nur an Gesicht (und an Einfluß im IRA-Lager) verlieren kann. Vielleicht kommt sogar der Tag, an dem die eingefleischtesten Unionisten, sprich Fürsprecher uneingeschränkter protestantischer Herrschaft, gerne bereit wären, mit Katholiken in einer Regierung zu sitzen — aber der gewalttätige Flügel der IRA wird eine solche Lösung nicht mehr zulassen, und was die IRA in Ulster nicht zulassen will, das wird niemand realisieren.

Erinnern wir uns: Die Teilung der Insel nach dem ersten Weltkrieg wurde im katholischen Lager keineswegs unwidersprochen hingenommen, und De Valera war gezwungen, die mit einem Meer von Blut erzwungene, von ihm selbst in Downing Street ausgehandelte Gründung des Freistaates (und Duldung eines weiter von England abhängigen Ulster) gegen die Radikalen im eigenen Lager mit Waffengewalt zu verteidigen. Er tat es mit eiserner Faust, und dabei flössen wiederum Ströme von Blut, und zwar in Südirland.

Daß die Teilung der Insel nicht von Dauer sein würde, scheint 1922 deutlicher empfunden worden zu sein als nach 50 Jahren protestantischer Herrschaft. Die IRA hat, außerhalb Irlands, kaum irgendwelche Sympathien, dafür aber die Logik der Geschichte auf ihrer Seite. Am Ende all dieser Wirren wird die Wiedervereinigung Irlands in einem einzigen Staat stehen. Die Regierungen in London und in Belfast haben es lediglich in der Hand, zu bestimmen, ob es früher oder später dazu kommt, und später heißt: nachdem noch mehr Menschen einer sinnlos gewordenen Durchhaltepolitik geopfert wurden.

Je früher England Irland als letzten Rest seiner Kolonialbuchhaltung völlig abschreibt, desto besser für eine produktive Zusammenarbeit in jener Organisation, die, Empire hin, Commonwealth her, Schauplatz der gemeinsamen Zukunft sein wird — der EWG, der Großbritannien und Irland angehören.

Das große Hindernis der Wiedervereinigung — mit allen ihren problematischen Aspekten, die wir schon früher an dieser Stelle erörtert haben — ist die Panik der protestantischen Unterschicht und die realistische Erkenntnis der protestantischen Oberschicht, daß ein vereinigtes Irland reicher sein wird als Südirland, aber jedenfalls ärmer als Nordirland. Um ihr Leben, um ihr Hab und Gut, brauchen sie nicht zu bangen — die protestantische Minderheit der Republik Irland lebt seit gut zehn Jahren unangefochten im Vollbesitz ihrer Rechte.

Aber Irland ist arm. Ein südirischer Arbeiter verdient weniger als ein nordirischer Arbeitsloser an Unterstützung bekommt. Nicht einmal für Ulsters unterdrückte Katholiken muß die Wiedervereinigung, in Pfund und Pennies, unbedingt von Vorteil sein. Alle Beteiligten wären besser gefahren, hätte entweder England schon 1922 der ganzen Insel die Unabhängigkeit gewährt (gegen den Widerstand der Loyalen in Ulster) — oder hätte Ulsters unio-nistisches Regiment in den folgenden 50 Jahren die Vernunft aufgebracht, Gerechtigkeit als Gebot der Stunde zu erkennen.

Noch vor zwei Jahren hätte Belfast den Weg des Kompromisses beschreiten können. Jetzt bleibt nur noch die Möglichkeit, schmerzhafte Konsequenzen zu ziehen. Je eher, desto weniger schmerzhaft.

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