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Vergangenheit, Gegenwart, Gemeinheit

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Ein Auszug aus dem demnächst im Residenz-Verlag, Salzburg, erscheinenden Roman „Steins Paranoia“.

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Ein Auszug aus dem demnächst im Residenz-Verlag, Salzburg, erscheinenden Roman „Steins Paranoia“.

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Vergangen sei das doch alles — so hatte sich Stein ehemals gegen gewisse Vorbehalte, Einwände, Einspruchsversuche seines Vaters gewehrt. Und eben deswegen: weil es vergangen war, hatte er sich wenig für diese Vergangenheit - deine Vergangenheit, hatte er damals zum Vater gesagt - interessiert. Was heißt meine Vergangenheit, darauf der Vater, aufbrausend, wie es sonst kaum seine Art war, was heißt meine? Und dein Großvater? Tut mir leid, hatte Stein gesagt, aber dem kann ich auch nicht mehr helfen.

Vergangen sei das doch alles / vergangen ist nichts, fand Claris-sa. Bis vor kurzem (vorgestern? gestern?) hatte sich Stein nicht für diese Vergangenheit interessiert. Abgeblockt, sagte sie; schon möglich, sagte er; verdrängt, sagte sie. Nein, nicht verdrängt — diese immer wieder heraufbeschworene Vergangenheit sei ihm schlicht auf die Nerven gegangen. Diese Emigrations- und Rückkehrgeschichten! Und vor allem der Ton, in dem sie erzählt wurden! Ein ihm seit damals unerträglicher Ton zwischen Larmoyanz und Vorwurf! Wien, Wien nur du allein, aber hier möcht ich nicht begraben sein - na entweder oder!

Habe etwa er, der zuvor gar nicht dagewesen sei, hierher zurückwollen? Nein, habe er nicht, und seine Mutter erst recht nicht. Zwar könne er sich an Amerika kaum mehr erinnern. Aber in der letzten Klasse der Volksschule -daran könne er sich erinnern - habe er bedauert, kein Amerikaner mehr zu sein.

Es war allerdings schon stark, gab er zu, was man seinem Vater damals bei seiner Rückkehr nach Osterreich angeblich gesagt hatte. Warn S' halt net förtgangen, dann war auch kein anderer eingezogen in Ihnere Wohnung! Das hatte Steins Vater erzählt — konnte das wirklich wahr sein? Jetzt, da es ihn interessiert hätte, weü es ihn plötzlich interessieren mußte, konnte sein Sohn ihn nicht mehr danach fragen.

Es hat doch, nicht wahr, Cla-rissa, Entschädigungen gegeben? Schon, sagte Steins toter Vater, aber ich wollt halt in unsere Wohnung. Die Wohnung, in der wir bis '38 gelebt haben, in der schon dein Großvater selig gelebt hat. Mein Großvater selig, dachte Stein, unberufen!

Der Großvater kam zu Besuch, seit Stein allein war. Seit Stein ausgezogen war aus der ehelichen Wohnung in diese, wie sollte er sie nennen: uneheliche — nein, so mochte sie Brigitte nennen, seine Frau. Seit sein Kontakt mit Marion auf das jeweils erste und dritte Wochenende im Monat reduziert war, nicht zu vergessen die Montage mit den Fahrten zum Tanzinstitut und zurück. Seit Stein so allzu allein war, suchte der Großvater ihn heim.

Und zwar, wie er vorgab, um ihn am Trinken zu hindern. Daß du dich nicht genierst, sagte der Großvater, das sind gojische Angewohnheiten. Tatsächlich kam er vor allem, das hatte Stein längst begriffen, weil er gern redete. Und weil er sich—Stein wurde den Verdacht nicht ganz los -auch gern ein bißchen wichtig machte.

Wen er, der Opa, nicht alles gekannt haben wollte! Die ganze Clique von Altenberg bis Fritz Grünbaum! Auch den Friedmann natürlich, einen, wie er sich nicht enthalten konnte zu urteilen, zwar etwas windigen Assimilanten und Aufschneider. Aber am Ende, da war dieser Herr Friedell dann doch nicht ohne Haltung.

Solche wie der Katsenelson seien jedoch von Anfang an ein anderer Schlag gewesen. Katsenelson? hatte der Enkel gefragt, als der Großvater den zum ersten Mal erwähnt hatte, er hatte den Namen bis dahin noch nie gehört. Katsenelson, hatte der Großvater gesagt wie ein Lexikon, Jitzak, 1886 bis 1944. Beide sind wir im gleichen KZ gestorben. Dann hatte der Großvater gar zu singen begonnen. Kennst du das nicht? Oh doch, Stein hatte das Lied durchaus im Ohr gehabt, allerdings auf englisch. Seither hatte er das Lied im Sinn, da spukte es herum und ging nicht mehr heraus. Was ist“ das für ein Lied? hatte Marion gefragt, ihr Vater mußte es also, während sie die Rolltreppe zur Landstraßer Hauptstraße hinauf fuhren, unwülkürlich gesummt haben.

Es geht darin um ein Kalb, sagte Stein, das zum Schlächter geführt wird. Das Kalb liegt gefesselt auf einem Wagen, und der Bauer geht neben dem Wagen her. Und am Himmel, so heißt es in dem Lied, dreht und wendet sich ein Vogel. Und der Wind, so heißt es in dem Lied, lacht darüber im Korn bis in die Nacht hinein. - Und weiter? — Naja, sagte Stein, das Kälbel schreit. - Wieso denn Kälbel?—So hat halt mein Großvater gesagt ... Das Kälbel schreit also, und der Bauer sagt: Wer schafft dir denn, ein Kalb zu sein? Hättest ja ebensogut ein Vogel werden können, eine Schwalbe zum Beispiel, wie die da oben ... naja, so ungefähr.

Bei diesen Worten war Stein verlegen geworden.

Das ist aber, sagte Marion, eine Gemeinheit!

Was? fragte Stein.

Na, was der Bauer da sagt.

Siehst du, sagte Stein zu seinem Großvater, als ihn der das nächste Mal besuchen kam, so hab ich das auch empfunden.

Aus dem demnächst im Residenz-Verlag, Salzburg, erscheinenden Roman „Steins Paranoia“.

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