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„Vergast ihn! Vergast ihn!"

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Für jemanden aus Deutschland oder Österreich klingt das alles unverständlich makaber: aufgebrachte Demonstranten ziehen durch die Straßen in den Städten Kaliforniens und schreien fanatisch „Vergast ihn! Vergast ihn!". Stundenlange Live-Berichte der lokalen Fernsehsender mit signifikanten Interviews mit dem „einfachen Mann" von der Straße, der glaubt, ja, einem Dieb solle man ruhig die Finger abhacken. „Leben für Leben, Aug' um Aug'..."

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Für jemanden aus Deutschland oder Österreich klingt das alles unverständlich makaber: aufgebrachte Demonstranten ziehen durch die Straßen in den Städten Kaliforniens und schreien fanatisch „Vergast ihn! Vergast ihn!". Stundenlange Live-Berichte der lokalen Fernsehsender mit signifikanten Interviews mit dem „einfachen Mann" von der Straße, der glaubt, ja, einem Dieb solle man ruhig die Finger abhacken. „Leben für Leben, Aug' um Aug'..."

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Warum die landesweite Aufregung? In Kalifornien ist in den frühen Morgenstunden am 21. April nach 25 Jahren die erste Exekution an einem Doppelmörder in einer Gaskammer vollstreckt worden. Der Gewaltverbrecher hatte vor dreizehn Jahren zwei sechzehnjährige Buben auf grausame Weise in einem Wald ermordet, um danach mit ihrem Auto in San Diego eine Bank zu überfallen. Davor wurde am 11. Februar 1992 in Texas ein geistesgestörter junger Mörder einer katholischen Nonne, der zur Tatzeit siebzehn Jahre alt war. seinem Henker vorgeführt. Die Mitschwestarn der Ermordeten und der Bischof haben sich jahrelang vergeblich dafür eingesetzt, daß seine Verurteilung in eine lebenslängliche Haftstrafe umgewandelt wird. Insgesamt wurden in den USA in den ersten vier Monaten 1992 bereits elf Todesurteile vollstreckt.

Sandra D. O'Connor, Richterin im Obersten Gerichtshof, befürchtet, daß mit der Urteilsvollstreckung in Kalifornien „eine Schleuse" aufgetan wurde, und eine Flut von Hinrichtungen auf die USA hereinbricht: Im gesamten Bundesgebiet warten derzeit an die 2.500 Gefangene auf ihre Exekution; davon allein 345 in Texas und 326 in Kalifornien. Einzelne Bundesstaaten, in denen seit Jahrzehnten niemand hingerichtet wurde, greifen wieder auf diese drastische Urteilsvollstreckung zurück: In Delaware wurde am 14. März nach 40 Jahren und in Arizona am 6. April nach 30 Jahren jeweils ein Mörder erstmals wieder hingerichtet. Der öffentliche Druck ist enorm, und keiner der Gouverneure kann es sich politisch leisten, eine Exekution auszusetzen. Selbst der demokratische - und damit liberale - Präsidentschaftskandidat Bill Clinton glaubte im Jänner beweisen zu können, gegen Verbrechen hartnäckig zu sein, und unterbrach seine Wahlkampagne, um in Arkansas als Gouverneur einen Hinrichtungsbescheid zu unterschreiben.

Die USA sind - neben Japan - die einzige westliche Industrienation, in der auf Gewaltverbrechen nach wie vor die Todesstrafe steht. Weltweit werden lediglich in den USA, im Irak und Iran, in Bangladesch. Pakistan und Nigeria selbst jugendliche Straftäter hingerichtet. Die Todesstrafe gilt in den USA unangefochten als „politisch korrektes" Mittel des Strafvollzugs. Eine Gallup-Studie aus dem Jahr 1991 zeigt eine Zustimmungsrate unter der Bevölkerung von 76 Prozent. Bei der jüngsten Strafrechtsnovelle im Herbst 1991, die Präsident Bush als zu „liberal" mit seinem Veto blockiert hat, wollte der Kongreß für 51 Verbrechen die Todesstrafe beschließen. Dazu zählen Hochverrat und Spionage.

Organisierter Widerstand gegen die Todesstrafe in den USA geht neben Amnesty International von den großen christlichen Kirchen und jüdischen Synagogen aus, die in einzelnen Bundesstaaten in ökumenischen Plattformen zusammenarbeiten. In Kalifornien waren es daher auch in erster Linie die Kirchen, die gegen die jüngste Exekution öffentlich protestiert haben. Die katholische Bischofskonferenz vertritt etwa die Position, daß „die hinter der Todesstrafe stehende Moralvorstellung allzu leicht genommen und ihre destruktive Konsequenz übersehen wird". Die Bischöfe betonen, „daß, ohne die begangenen Verbrechen rechtfertigen zu wollen, mit dem Leben des Mörders das Leben der Opfer nicht gesühnt werden kann. Die Todesstrafe ist die falsche Lösung, den Kreislauf der Gewalt zu durchbrechen". Die vom Staat vorgenommene Tötung eines Lebens unterminiere darüber hinaus in der Gesellschaft den Respekt vor der Unverletzlichkeit des Lebens. Trotz dieser unmißverständlichen Haltung unterstützen, laut Gallup-Studie, 77 Prozent der Katholiken die Todesstrafe.

Die amerikanischen Justizbehörden sehen sich immer wieder mit deutlicher Kritik von Menschenrechtsorganisationen aus westeuropäischen Staaten konfrontiert. Papst Johannes Paul II. und Mutter Teresa zählen regelmäßig zu den prominenten Persönlichkeiten, die sich in einzelnen Fällen für die Aussetzung der Todesstrafe in den USA einsetzen; letztere hat sich gerade erst bei Gouverneur Pete Wilson für den kalifornischen Doppelmörder verwendet. Im Jahr 1989 hat ein Bundesgericht in Indiana nicht zuletzt wegen einer Intervention des Papstes die Todesstrafe an einer psychisch kranken Frau, die im Alter von 15 ihren Religionslehrer ermordet hatte, in eine lebenslange Haftstrafe umgewandelt.

Amnesty International macht seit vielen Jahren vergeblich auf die großen Mängel und die hohen Kosten des neunstufigen Gerichtsverfahrens aufmerksam, das weit über zehn Jahre dauert und im Einzelfall bis zu sieben Millionen Dollar kosten kann. Vergleichsweise werden für eine lebenslange Haftstrafe lediglich 500.000 Dollar aufgewendet. Bis zu 40 Prozent aller Urteile werden durch die Bundesgerichte wegen Verfahrensmängeln, unsauberer Beweisführung der Staatsanwälte oder wegen unzureichender Verteidigung der Straftäter wieder aufgehoben. 39 Prozent der Verurteilten sind Schwarze und 89 Prozent der Opfer, deren Mörder zum Tode verurteilt werden, Weiße. Kritiker wollen in diesen Zahlen erkennen, daß die Urteilspraxis der US-Gerichte nach wie vor nicht „farbenblind" sei und zu stark auf öffentliche Vorurteile reagiere.

Wie problematisch Gerichtsverfahren mit Todesurteilen sein können, hat eine bundesweit renommierte Juristenzeitschrift aufgezeigt: In den letzten Jahren sind in sechs Fällen in verschiedenen Südstaaten der USA angeklagte Todesstrafekandidaten entweder von betrunkenen Rechtsanwälten oder von solchen, deren Erfahrung ausschließlich im Steuerrecht lag, verteidigt worden.

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