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Vergatterung zum Verweigerungskurs

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Unter Moskaus hartem politischen Kurs leiden derzeit alle: westliche Entspannungs-Anhänger, die osteuropäischen Verbündeten und die Sowjetbürger selbst, die diszipliniert und von ausländischen Einflüssen mit allen möglichen Maßnahmen abgeschirmt werden sollen.

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Unter Moskaus hartem politischen Kurs leiden derzeit alle: westliche Entspannungs-Anhänger, die osteuropäischen Verbündeten und die Sowjetbürger selbst, die diszipliniert und von ausländischen Einflüssen mit allen möglichen Maßnahmen abgeschirmt werden sollen.

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Im sowjetischen Fernsehen macht dieser Tage die Rote Armee den Hitler-Truppen wieder den Garaus. Tagtäglich flimmern Filme über den „Großen Vaterländischen Krieg" über den Bildschirm, so wird offensichtlich schon frühzeitig das 40-Jahre-Ju-biläum des endgültigen Sieges über den Nationalsozialismus eingeläutet, das im Mai 1985 in der Sowjetunion wohl den gesamten Agitprop-Apparat total in Anspruch nehmen wird.

Doch es marschieren nicht nur die siegreichen Rotarmisten des Zweiten Weltkrieges im Fernsehen: Grimmig dreinblickende amerikanische GI's mit aufgekrempelten Armein — wie ehedem die in der Sowjetunion einfallenden Hitler-Soldaten — erinnern die Bürger der UdSSR an den Feind der Gegenwart. Dazu erzählt ein Major der Roten Armee: „Der sowjetische Soldat ist stark

durch seinen Kampfgeist, während die Amerikaner nur auf Dollars aus sind... Die Amerikaner haben kein Durchhaltevermögen und laufen beim ersten Angriff davon."

Nicht nur Hitler-Soldaten und US-GI's werden in ein Naheverhältnis gebracht. Karikaturen zeigen US-Präsident Ronald Reagan, der dem Nazi-Oberschlächter SS-Chef Heinrich Himmler die Hand schüttelt; auf einem anderen Cartoon sitzt Propaganda-minister Josef Goebbels auf Reagans Schulter und flüstert ihm ein, wie er eine antisowjetische Propaganda-Kampagne zu orchestrieren hätte.

Was dem gewöhnlichen Sowjetbürger durch solche Gegenüberstellungen wohl suggeriert werden soll: Das Amerika Ronald Reagans stellt für die Sowjetunion heute eine ähnlich große Gefahr dar wie vor vier Jahrzehnten Hitlers Nazideutschland; die Amerikaner sind die „neuen Nazis".

Und „verstärkte neonazistische Umtriebe" haben sowjetische Beobachter gerade in jüngster Zeit auch in der Bundesrepublik Deutschland entdeckt. Dort feiert der „Revanchismus" fröhliche Urständ, tönt es gleichermaßen harsch aus sämtlichen sowjetischen Medien.

Fragt man sowjetische Gesprächspartner freilich nach den konkreten Indizien für solche Behauptungen, fallen die Beweise eher dürftig aus. Boris Feld, Kommentator der „Leningrader Prawda", zählt auf: „Seit Helmut Kohl an der Regierung ist, fühlen sich verschiedene faschistische Gruppen einfach sicherer. Die revanchistischen Tendenzen nehmen zu, bundesdeutsche Politiker treten bei Zusammenkünften von Vertriebenen-Verbänden auf und fordern Grenzrevisionen. Buchläden quellen über von neonazistischer Literatur."

Unverkennbar ist: Die Sowjetunion befindet sich derzeit in einem Prozeß der totalen Einigelung. Das Sowjetsystem richtet aggressiv seine Stacheln nach außen, zu sehr wurde es von Reagans Rhetorik gereizt, der es als „Reich des Bösen" bezeichnete, ihm ein baldiges Ende auf dem „Schrotthaufen der Geschichte" prophezeite und die UdSSR in einer Sprechprobe für eine Rundfunkansprache jüngst scherzhaft für

„vogelfrei" erklärte (siehe Seite 2).

Solche Aussagen sind natürlich Wasser auf die Mühlen der sowjetischen Propaganda. Und sie werden in jeder nur erdenklichen Weise für die eigenen Zwecke ausgeschlachtet, um allen Zweiflern auch im eigenen Lager einzubleuen: „Was wir immer gesagt haben: Reagan haßt uns. Eine Bombardierung der Sowjetunion entspricht seinen innersten Wünschen."

Die Devise der Kreml-Führung heißt unüberhörbar: Die Zügel straffen, und zwar nach außen, gegenüber den Verbündeten in

der kommunistischen Welt, wie nach innen, gegenüber der eigenen Bevölkerung.

Mit COMECON-Beschlüssen, werden allzu eigenwillige Partner wie Ungarn oder die DDR, die nach eigenen Wegen zur wirtschaftlichen Zusammenarbeit mit westlichen Ländern suchen, um aus der ökonomischen Misere herauszukommen, wieder nach Moskau ausgerichtet.

Der verordnete Olympia-Boykott diente nicht zuletzt auch dazu, die Reihen der sozialistischen Bruderländer hinter dem Verweigerungskurs Moskaus zu schließen. Mit der Medienkampagne gegen die westdeutschen „Revanchisten" wird indirekt auch Ostdeutschlands SED-Chef Erich Honecker signalisiert, seinen Flirt mit Bonn nicht zu weit zu treiben.

Die Straffung der Zügel nach innen erfolgt in den verschiedensten Bereichen. Einige Beispiele: 9 In der sowjetischen Bevölkerung wird — wie schon erwähnt — die Kriegspsychose geschürt und gleichzeitig der Patriotismus mobilisiert. An die Wohnungstüren der Sowjetbürger klopfen dieser Tage Mitarbeiter der Zivilverteidigungs-Organisation und fragen die erstaunten Bewohner, ob sie unterrichtet wären, wohin sie zu fliehen hätten, wenn im Falle eines Atomangriffes die Sirenen losgingen.

• In den letzten Tagen und Wochen haben sich die Aufrufe der sowjetischen Parteiführung gehäuft, die „kommunistische Erziehung" der Jugend zu verstärken. Denn der Nachwuchs verhalte sich teilweise undiszipliniert, individualistisch und neige zur Passivität gegenüber der Gesellschaft. Was von den jungen Sowjetmenschen heute mehr denn je gefordert wird, ist die „grenzenlose Ergebenheit für die Sache des Kommunismus und Unversöhn-lichkeit gegenüber der bürgerlichen Ideologie".

Offensichtlich stört es die Kremlführung, daß junge Sowjets nach wie vor allem, was aus dem Westen kommt, geradezu nachjagen. Was offensichtlich wird, wenn man in Moskau oder Leningrad Dutzende Male von Jugendlichen auf der Straße angeredet wird, die dem Westbesucher von Jeans über Armbanduhren bis zu Sonnenbrillen alles abkaufen möchten.

# Die Verstärkung der ideologischen Schulung wird auch für die Angehörigen der Roten Armee gefordert.

Admiral Alexei Sorokin, Vize-Vorsitzender des Kontrollausschusses der Streitkräfte, beklagte sich unlängst in einem Artikel des Ideologie-Magazins der Roten Armee: „Bei bestimmten militärischen Bediensteten mangelt es an geistiger Disziplin, und sie gehen manchmal über das gesetzlich Erlaubte hinaus, indem sie Normen kommunistischer Lehre brechen und Taten begehen, die keine Grundlage in unserer Gesellschaft haben."

Allein, daß ein hoher Offizier Disziplinmangel in der Roten Armee zugesteht, ist ungewöhnlich. Was aber wird die Konsequenz eines solchen Eingeständnisses von Versäumnissen sein? Wohl ein weiteres Anziehen der Disziplin-Schraube ___

# DieVerschärfungderDisziplin betrifft aber nicht nur Jugendliche und Rotarmisten, sondern die gesamte Bevölkerung: Seit 1. Juli ist ein neues Dekret über die Reglementierung der Kontakte zwischen Sowjetbürgern und Ausländern in Kraft, das diese Begegnungen weitgehend einschränken soll: Wer Ausländern Informationen über den Arbeitsplatz gibt oder wer Ausländer im Auto mitnimmt beziehungsweise im eigenen Haus übernachten läßt, muß mit hohen Geldstrafen,

ja mit dem Gefängnis rechnen. Ein Wink mit dem Zaunpfahl an die eigenen Bürger: Der Umgang mit Ausländern ist gefährlich! # Leidtragende der inneren Verhärtung sind natürlich vor allem die regimekritischen Sowjetbürger, wie der Fall Sacharow anschaulich vor Augen führt. Die Abschottung des Systems betrifft aber auch das gesamte Kulturleben der Sowjetunion, wie der Hinauswurf des Theatermannes Lju-bimow und des Filmemachers Tarkowskij (siehe FURCHE Nr. 32/84) nur allzu deutlich zeigte.

Sowjetbürger klagen über eine Provinzialisierung und Verarmung des Kulturlebens — auch, weil der Schutz vor fremden Einflüssen derzeit so im Vordergrund steht. Ein Beispiel: Ab 31. Juli dürfen keine vorverzollten Pakete mehr in die UdSSR geschickt

werden, gleichzeitig ist es kaum mehr möglich, etwa ein sowjetisches Buch ins Ausland zu schik-ken.

Eine solch massive Kampagne zur Disziplinierung und Abkapselung, das Schüren der Kriegspsychose und die Propagierung eines konkreten Feindbildes, eben der kriegslüsternen Amerikaner, kann auf die Sowjetbürger nicht ohne Wirkung bleiben.

Andererseits führt sich die Sowjetpropaganda selbst ad absurdum, wenn sie seit Jahrzehnten der eigenen Bevölkerung einschärft, ein Atomkrieg könne nicht gewonnen werden, jetzt

aber Bilder eines zum nuklearen Holokaust entschlossenen Feindes malt, den Bürgern Zivilverteidigungs-Mitarbeiter ins Haus geschickt und auf einmal junge Männer zur Roten Armee einberufen werden, die aus gesundheitlichen und familiären Gründen seit Jahren zurückgestellt worden waren. Was soll die ganze Mobilisierung, muß sich der einfache Sowjetbürger fragen, wenn ein Atomkrieg ohnedies nicht gewonnen werden kann?

Uberhaupt: Was sind die Ursachen für den derzeit so aggressiven Theaterdonner? Ja gewiß: Die Sowjets sehen durch Reagans „Politik der Stärke" ihren Status als gleichberechtigte Supermacht gefährdet; die Kremlmachthaber selbst fühlen sich durch Reagans Angriffe auf die Legitimität des Systems und das Prestige seiner Führer vor dem eigenen Publikum desavouiert; und sie sehen sehr wohl auch das neuerliche wirtschaftliche Erstarken des Kapitalismus, vor allem in den USA, der sich aller marxistischleninistischen Theorie zum Trotz als so überlebensfähig und regenerierbar und als dem planwirtschaftlichen System als so überlegen erweist.

Nur im militärischen Bereich hält die Sowjetunion mit. Aber Reagans Politik der Stärke zwingt Moskau zu neuerlichen Anstrengungen, die sich so leicht nicht auch in einer zentralgelenkten und dem Militär dienenden Wirtschaft verwirklichen lassen. Der Rückstand im technologischen Bereich, die jüngst erfolgreichen Tests von neuen amerikanischen Waffen wie Antiraketen-Raketen, Anti-Satelliten-Waffen oder seegestützten Marschflugkörpern muß bei den Militärs in Moskau die Alarmglocken schrillen lassen.

Ein weiterer Grund für die Verhärtung neben der vielzitierten „Einkreisungsangst", dem Rück-ständigkeits- und Minderwertigkeitsgefühl der Sowjets und dem entschlossenen Auftreten des Ronald Reagan ist gewiß auch, daß man eben diesem Präsidenten mit irgendwelchen Zugeständnissen von Moskauer Seite auf keinen Fall zu einer zweiten Amtsperiode im Weißen Haus verhelfen will.

Doch bis jetzt weist alles darauf hin, daß Ronald Reagan für weitere vier Jahre ins Weiße Haus einzieht. Das sehen auch sowjetische Gesprächspartner so. Das hält aber die Kremlführung und ihren Propaganda-Apparat nicht davon ab, weiter wie wild gegen die Reagan-Administration loszuschlagen und für diesen Kreuzzug alle hinter sich zu vergattern. Für die Entwicklung der Ost-West-Beziehungen in der nächsten Zeit verheißt dies nichts Gutes. Ebenso wenig für die Sowjetbürger, die unter der Verschärfung des internationalen Klimas im besonderen Maße zu leiden haben ...

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