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Vergessen und verwahrlost

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Jedes Jahr werden allein in Wien 150 Wohnungen aufgrund eines „sanitären Übelstandes” zwangsgesäubert. Ans Tageslicht kommt dabei eine jahrelange soziale Isolation.

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Jedes Jahr werden allein in Wien 150 Wohnungen aufgrund eines „sanitären Übelstandes” zwangsgesäubert. Ans Tageslicht kommt dabei eine jahrelange soziale Isolation.

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Ein Sonntagmorgen in Wien: eine bunt gewürfelte Gruppe von Schülern, Lehrlingen und Studenten rückt mit Kübeln, Besen und Mistsäcken bewaffnet aus, um „Dienst am Mitmenschen” zu praktizieren.

Platz ist hier nur für Idealisten, denn wer nur für die 360 Schilling Aufwandsentschädigung mitmacht, kommt nur einmal.

Die Gruppe fährt in den 8. Wiener Gemeindebezirk. Schon im

Stiegenhaus des vierstöckigen Bürgerhauses steigt ein leichter Fäkaliengeruch in die Nase. Frau Berta K. öffnet die Tür erst nach längerem Zögern. Der Geruch in der Wohnung ist beinahe unerträglich. Berge von Wäsche liegen herum. Die Mistsäcke türmen sich in einer Ecke, und das weiße Email des Gasherdes ist unter einer dicken Schicht Schmutz verborgen. Im Schlafzimmer werden die Wände untersucht. Die Wohnung ist verwanzt Das Ungeziefer wird von einer Spezialabteilung beseitigt.

Solche Fälle sind keine Einzelerscheinung, weiß der Einsatzleiter zu berichten. Die Zahl der „zwangsgesäuberten” Wohnungen steigt. Waren es 1974 rund 40, ist ist man heute bei 150 im Jahr angelangt. Die Kosten, die je nach Einkommen teils von den Betroffenen selbst und teils von der Gemeinde getragen werden, stiegen im letzten Jahr auf rund 250.000 Schilling.

Für den Leiter des Heimhilfereferates in der Magistratsabteilung 12, Friedrich Leitner, der laut Gemeindeverordnung auch Sozialfälle dieser Art betreut, sind nicht so sehr die Zahl der Ubel-stände und die damit verbundenen Kosten erschreckend, sondern die Ignoranz der Nachbarn und Verwandten: „Da will sich keiner die Hände schmutzig machen, bis nach Monaten oder Jahren der Zustand unerträglich wird. Nur bei akuten psychischen oder körperlichen Leiden verschlechtert sich meist der Zustand der Wohnung so rapid, daß für die betroffenen Personen rasch Hilfe angefordert wird. Wenn etwa bei einem alten Menschen der Sammeltrieb durchbricht, so dauert es Jahre, bis jemand dahinterkommt, daß die Person nicht einmal mehr einen Schlafplatz in der Wohnung hat, da sich Papier und Kisten bis zur Decke stapeln.”

Das Sammeln von Papier allein reicht nach der Reinhalteverord-nung von 1982 nicht aus, eine

Zwangsräumung durchzuführen, doch „ist es in den meisten Fällen mit Zustimmung der Betroffenen möglich, die Wohnung wieder benutzbar zu machen” (Leitner).

Gute nachbarschaftliche Kontakte könnten in vielen Fällen einen Abstieg in das „unhygienische Elend” verhindern. In der Realität ist aber das genaue Gegenteil der Fall: oft genug wird aus reiner Schadenfreude Anzeige erstattet.

Für eine „Verwahrlosung” sind drei Gruppen besonders anfällig: zu 80 Prozent Menschen, die das 70. Lebensjahr überschritten haben, die restlichen 20 Prozent stellen zumeist Alkoholiker und psychiatrische Patienten.

„Für alle Gruppen ist die Nachbetreuung durch die Heimhilfe das eigentlich Entscheidende, denn die Ursachen für die Verwahrlosung werden durch eine einmalige Putzaktion nicht beseitigt”, meint Leitner.

Der Amtsweg: Ist einmal die Anzeige bei der Polizei oder im Magistratischen Bezirksamt eingelangt, bei dem die formale Zuständigkeit liegt, wird in der betreffenden Wohnung eine Begutachtung durchgeführt. Nach Paragraph 13 der Reinhalteverord-nung der Wiener Stadtverfassung „muß den mit der Feststellung eines Ubelstandes betrauten Organen ... Zutritt zu den vom Ubel-stand betroffenen Objekten ermöglicht werden”. Daß ein unbedingter Zutritt in eine Privatwohnung problematisch ist, gibt man im Magistrat nur sehr ungern zu. Per Bescheid darf nur in jenen Fällen zwangsgesäubert werden, wo „ein die Sicherheit oder Gesundheit von Menschen gefährdender Mißstand oder eine unzumutbare Belästigung der Nachbarschaft (zum Beispiel durch üblen Geruch oder Ausbreitung von Ungeziefer) entsteht”.

Räumung per Bescheid

Allerdings, so Leitner, ist „die Räumung per Bescheid meist der allerletzte Weg”. „Die meisten Betroffenen lassen allein aufgrund der drohenden Delogierung eine Räumung durchführen.”

Ist im Ermessensspielraum ein sanitärer Ubelstand festgestellt, wird von Magistratsbeamten die Wohnung auf eventuelle Wertgegenstände untersucht und zur Räumung freigegeben. Daß die Begutachtung zur Wahrung persönlicher Werte nicht immer mit der nötigen Sorgfalt durchgeführt wird, sind sich die Räumungshelfer einig: „Wir haben schon öfter beträchtliche Geld-und Schmuckfunde gemacht — einmal sogar 500.000 Schilling in bar.”

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