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„Vergoldetes Zeitalter“, lachend bloßgestellt

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„Abseits der übrigen Welt lag Österreich in tiefem Schlaf. Noch herrschte das Mittelalter in Österreich, und alles sprach dafür, daß es immer so bleiben würde.“ So beginnt Mark Twains, der am 30. November 1835 in Florida geboren wurde, letzte große Erzählung, in der ein Satan von wienerischem Charme die Wienerwaldatmosphäre und deren Biedermeierzauber als dantesken Höllengrund enthüllt.

Er muß gar nicht viel Diabolisches dazutun, sondern nur klarstellen, wie die Menschen da leben: „unwissend, banal, eingebildet, von Krankheiten geplagt und gebrechlich, kurzum eine schäbige, armselige und unnütze Gesellschaft.“

Hat die Kaltwasserkur, der sich der hochberühmte Humorist in Kaltenleutgeben unterzog, ihm wirklich so schlecht angeschlagen? Der tragische Zwiespalt des großen amerikanischen „funny man“, des Spaßmachers, der buchstäblich die Welt eroberte, reicht viel tiefer in seine Biographie und seinen Charakter hinein.

In seinem fünfundsiebzigj ährigen Leben wird er vom lachenden Dritten, der sich über die uralten Konflikte von Geist und Materie, Mensch und Natur, Person und Gesellschaft in satirisch-humoristischer Epik lustig macht, zum Misanthrop, der in allem und überall, auch im Wienerwald „Den unbekannten Fremden“ — so heißt seine Österreich-Erzählung — und die Klaue des Teufels verspürt.

Wie konnte es nur dazu kommen, da ihm doch Erfolg um Erfolg gegönnt war? (1879 wurden 375.000 Exemplare seiner Lausbubengeschichte „Tom Sawyer“ verkauft.)

Nach dem frühen Tod des Vaters arbeitete er zunächst als Drucker, galt aber bereits in seinem 20. Lebensjahr als „Colum-nist“ von großer lokaler Beliebtheit. Trotz seines glänzenden Starts als Journalist arbeitete er dann als Lotse auf den Schiffen des Mississippi. Fasziniert von einer Daseinsform, die Risiko und Tatkraft im Einklang mit der Natur erforderte und entfaltete, sammelte er viele Jahre Elementarerfahrungen, über die bis dahin wohl kein Schriftsteller seines Talents verfügt hatte. Der Schifferruf „Mark Twain“ hat hinfort seinen bürgerlichen Namen Samuel Langhorne Clemens verdrängt.

Faulkner ebenso wie Hemingway sahen in seinem Mississippi-Buch „Huckleberry Finn“ (1884) das „Stammbuch“ der gesamten amerikanischen Literatur, dessen Einfluß auch im 20. Jahrhundert weiterwirkt und in solchen Meisterwerken wie „Der alte Mann und das Meer“ nachweisbar ist.

Die ungewöhnliche Aufmerksamkeit, die vom Lotsen gegenüber der Wasseroberfläche verlangt wird, konnte Twain auf die Oberfläche der Gesellschaft übertragen, um deren gefährliche Untiefen zu erspüren.

Mit der Unmittelbarkeit der Erfahrung in einem geographischen und literarischen Neuland verband Mark Twain die alten abend- und morgenländischen Techniken, den Reise-, den Initia-tions- und den Entwicklungsroman, und führte mit der Zugkraft von fesselnden Ereignisketten den Leser zu symbolischen Inhalten: zum Zeitstrom „Mississippi“ und der verharrenden Uferwelt, in der man sich nicht treiben lassen kann wie auf dem Fluß.

Siebenunddreißig Bände umfaßt das Werk dieses Autors, der nicht verhehlte, daß Schreiben für ihn ein Geschäft war. Meisterhaft beherrschte er die Kurzformen.

Seine meistens satirischen, oft auch nur gutmütigen Humoresken, in Zeitungen und Zeitschriften veröffentlicht, gewannen ihm in der gesamten anglo-sächsi-schen Welt - zu der ja damals auch die britischen Kolonien in aller Welt gehörten — weitere Leserschichten. Zudem war Mark Twain sein bester Interpret. Er absolvierte regelrechte Tourneen, und die Säle, in denen er am Lesepult saß, waren stets ausverkauft.

Wie sonderbar, daß Rußland und Amerika gleichzeitig die besten Humoristen der Kurzprosa besessen hatten: Mark Twain und Anton Tschechow! Freilich, ihre Entwicklung führte in entgegengesetzte Richtungen.

Mark Twains burleske Szenen nahmen Charles Chaplin vorweg, Dinge und Umstände werden ebenso aktiv wie Personen. Nur seinen Romanen, in denen er seine spannungsreiche Existenz nicht durch Lachen, sondern mit Hand-lungs- und Gedankenkonstruktionen überwinden wollte, blieb die Geschlossenheit versagt, was aber deren Breitenwirkung keineswegs beeinträchtigte. So ist ein Romantitel — als Quintessenz des Inhalts — zum Schlagwort geworden: „Das vergoldete Zeitalter“ löste als spezifisch amerikanische Entdeckung das Goldene Zeitalter der alten Menschheitsmythen ab.

Twains zuweilen scharf polemisch auch gegen Europa gerichtete Werke liefern im übrigen auch einen Beitrag zur Geschichte der Amerika-Europa-Problematik. Steht doch der amerikanischen „Innocence“ die europäische „Experience“ gegenüber — und das heißt bei dem späten Twain sehr häufig „Verruchtheit“. Wenn wir aber an unsere beiden Weltkriege und an Auschwitz denken, ist diese Ausdrucksweise gar nicht so unsinnig.

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