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„Verhaftet und für verrückt erklärt“

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n und über die Mentalität der Bürgerrechtsbewegung in der Sowjetunion.

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FRAGE: Sie wurden zur Einweisung in eine Irrenanstalt verurteilt, als Sie 21 Jahre alt waren. Was hatten Sie verbrochen?

BUKOWSKY: Am 1. Juni 1963 wurde ich zum erstenmal verhaftet, weil ich in meiner Wohnung zwei Photokopien des Buches von Milovan Djilas „Die Neue Klasse“ hatte. Ich verbrachte einige Monate in Haft, und nach Abschluß der Untersuchungen wurde ich ins Serbsky-Institut gebracht; dort wurde ich für geisteskrank erklärt und für nicht verantwortlich für meine Taten. Danach wurde ich, im Dezember 1963, in eine besondere psychiatrische Klinik für Gefangene in Leningrad gebracht, wo ich 18 Monate blieb.

Das schien mir zunächst eine seltsame Entscheidung. Ich konnte nicht verstehen, warum das geschah. Ich konnte nicht verstehen, wie mich der untersuchende Arzt für abnormal halten konnte. Als ich aber erst einmal die anderen Insassen dieser Klinik kennenlernte, entdeckte ich, daß es die übliche Entscheidung in solchen Fällen war. Es ist so: Die Insassen, die Patienten dieser Klinik sind Leute, die etwas getan haben, was in den Augen der Behörden ein Verbrechen ist, vor dem Gesetz jedoch keines. Um sie nun einerseits zu bestrafen, anderseits zu isolieren, werden solche Leute für geisteskrank erklärt und als Patienten in diesen Gefangenenpsychiatrien eingesperrt.

Bis ich das begriff und ich meine Mitgefangenen kennenlernte, verging einige Zeit. Ich glaube, dies ist das gewöhnliche Schicksal eines Menschen, der er selbst zu sein wünscht, der sagen möchte, was er denkt, und in Ubereinstimmung mit seinen Gedanken und seiner Überzeugung handeln will. Ereignisse der letzten Jahre bestärken mich in dieser Auffassung. Viele Leute, Hunderte von Leuten sind für geisteskrank erklärt und in verschiedene Kliniken eingewiesen worden, wie in Kazan, Leningrad, Chernigovsk, Sechyvka usw.

FRAGE: Wie ist das Leben für einen Dissidenten, wie Sie es sind, in einer solchen Anstalt?

BUKOWSKY: Was ist das für ein Ort, die Psychiatrische Klinik in Leningrad? Stellen Sie sich ein Gefängnis vor, ein altes Gefängnis, eins aus der Zeit vor der Revolution, in dem so -an die tausend Gefangene sich befinden, die. Hälfte von ihnen Mörder, Leute, die im Zustand der Unzurechnungsfähigkeit schwere Verbrechen begangen haben — Leute also, die wirklich krank sind —, und der Rest sind politische Gefangene, Dissidenten, für die man keinen Paragraphen im Strafgesetzbuch finden konnte und keine andere Art der Behandlung als an einem solchen Ort.

Das Gefängnispersonal besteht in erster Linie aus Aufsehern, der

üblichen Art Gefängnisaufseher, die ihre Uniform mit einem weißen Kittel vertauscht haben. Die Gefängnisgänge waren wie in irgendeinem Gefängnis eben, mit verschließbaren Zellen; die Zahl der Insassen je Zelle ist verschieden je nach Abteilung: zwei oder drei in der Beobachtungsabteilung, zehn oder zwölf in den anderen. Neben den Aufsehern gibt es die Pfleger; das waren Gefangene, Kriminelle, die auf diese Weise ihre Strafe abarbeiteten. Es sind Leute, denen das Schicksal der Patienten völlig gleichgültig ist; ein Patient ist für sie nur eine Sache. Sie müßten mit den Patienten sprechen, doch das tun sie nicht gerne, und so lassen sie ihre Launen an ihnen aus. Eine Amtsaufsicht gibt es hier nicht. Wenn ein Gefangener, einer vom Personal, einen Patienten schlägt, können sie immer sagen, sein Zustand habe sich verschlimmert und er sei gewalttätig geworden, deshalb hätten sie ihn zurückdrängen müssen. Das würde genügen, und sie würden nicht bestraft.

Es ist viel schwieriger, aus einem solchen Haus herauszukommen als hinein. Um herauszukommen, muß man erstens den Ärzten offen und amtlich zugeben, daß man krank war: „Ja, ich war krank, ja.“ — „Ich wußte nicht, was ich tat, als ich das da getan habe.“ Die zweite Bedingung: man muß zugeben, daß es Unrecht war; man muß seine Tat verleugnen. Ich kenne mehrere Fälle, in denen sich Leute weigerten, das zu tun; sie verbrachten dann viele lange Jahre in dieser Klinik.

Nikolai Nikolajewitsch Sam-sonow zum Beispiel, ein Geophysiker aus Leningrad, wurde dort bloß deshalb festgehalten, weil er nicht zugab, ein kranker Mann zu sein. Ein änderer meiner Freunde in dem Irrenhaus War französischer Kommunist rumänischer Herkunft; er hatte über zehn Jahre in Marseille gelebt und war dann in die Sowjetunion gekommen, um den Kommunismus in der Praxis kennen zu lernen. Er arbeitete lange Zeit in einer Schuhfabrik in Moldavia. Doch es paßte ihm nicht, daß die Arbeiter dort so niedrige Löhne hatten. Er erzählte seinen Kollegen, daß sie um bessere Bezahlung kämpfen müßten, und die streikten. .Er aber wurde verhaftet und für verrückt erklärt. In der Klinik konnte er überhaupt nicht verstehen, was ihm passiert war, wie Kommunisten so etwas tun konnten. Für ihn waren Kommunismus und Kampf für ein besseres Leben mehr oder weniger dasselbe — er konnte überhaupt nicht verstehen. Gegen Ende seines Aufenthaltes in der Klinik schien er mir nun tatsächlich den Verstand zu verlieren, denn er erzählte jedermann, daß die Sowjetregierung unter dem Einfluß des Vatikan sei.

Ein anderer meiner Freunde in dem Gefängnis war aus Lettland; er lebte als Emigrant in Australien und war in die Sowjetunion zurückgekehrt, um seine Verwandten und Freunde zu besuchen. Sie wollten ihn nicht wieder aus der Sowjetunion hinauslassen und sagten ihm, weil er Lette sei, sei er auch Sowjetbürger, und es habe keine andere Regierung in Lettland gegeben.

Ich möchte erwähnen, daß ich im Gefängnis nicht das Gefühl hatte, von den Leuten, mit denen ich da eingesperrt war, mißverstanden zu werden. Trotz ihrer verschiedenen Vergangenheit und trotz ihrer verschiedenen Vergehen gab es in ihrem Verhalten gegenüber meiner Person genügend Ubereinstimmung, gegenüber einem Manne, der die Bürgerrechte aller verteidigte. Es genügte ihnen zu wissen, daß wir — die Gruppe jener Bürger, welche für die Rechte der Bevölkerung unseres Landes kämpft — durch einen gemeinsamen Leitgedanken verbunden waren, nämlich den: es ist nötig, sich der Bürger- und Menschenrechte bewußt zu sein. Das genügte uns allen. Meine Mitgefangenen verstanden zur Genüge, was ich getan hatte. Sie verstanden, daß meine Aktionen nötig waren, und sie waren bereit, mir zu helfen, obwohl sie Leute aus verschiedenen sozialen Schichten waren.

Ich hatte dort eine Menge Freunde; ihre Fälle machten mich sicher, daß sie in dieser Klinik gelandet waren, weil sie etwas getan hatten, weshalb man sie nicht vor Gericht stellen konnte, daß sie aber keine Rechtsbrecher waren; die Klinik war einfach ein Mittel, um sie verschwinden z,u lassen.

FRAGE: Wie werden Dissidenten in einer solchen Anstalt behandelt?

BUKOWSKY: Das System dieser Klinik glich dem eines Gefängnisses. Eine Stunde Exerzieren pro Tag, verschlossene Zellen. Einmal Besuch, ein Brief an Verwandte, ein Päckchen pro Monat. Genau wie in einem Gefängnis. Die Ärzte selber waren sich im klaren darüber, daß es sich nicht um eine Krankenanstalt, sondern um ein Gefängnis handelte, und sie sagten es manchmal auch offen heraus. Wenn ein Patient unangenehm auffiel, konnte er bestraft werden.

Es war sehr leicht, in diesem Hospital Schwierigkeiten zu bekommen, und die Strafen waren sehr hart. Drei Arten von Strafen wurden dort ganz allgemein angewendet. Die erste Form der Bestrafung besteht in der Verabreichung medizinischer Präparate. Das Präparat Sulfasin ist vermutlich bekannt; man nahm es, wenn einer der Patientenhäftlinge sich irgendein Vergehen zuschulden kommen ließ oder einem Arzt eine grobe Antwort auf , seine -Fragen gab oder - erklärte,' ' ein Arzt in dieser Klinik sei in Wirklichkeit ein Scharfrichter im weißen Kittel. Eine Bemerkung wie diese genügte für eine Bestrafung. Sulfasin ist eine ziemlich schmerzhafte Form der Bestrafung: das Präparat läßt die Temperatur auf etwa 40 Grad ansteigen; man fühlt, daß man Fieber hat, kann nicht aus dem Bett oder herumlaufen, und das dauert etwa ein bis zwei Tage. Wenn die Behandlung wiederholt wird, hält die Wirkung eine Woche bis zehn Tage an.

Eine zweite Form der Bestrafung besteht in der Anwendung eines Präparates namens Amino-zin; es wird in der Psychiatrie Verwendet und ist deshalb wahrscheinlich auch in anderen

Ländern bekannt. Es macht den Patienten müde und schläfrig; er kann schließlich mehrere Tage schlafen, und wenn die Behandlung regelmäßig weitergeführt wird, schläft er, solange sie fortgesetzt wird.

Die dritte Art Bestrafung pflegten wir „Wickel“ zu nennen. Dabei wurde der Patient in lange Stücke nasser Leinwand eingerollt, vom Kopf bis zum Fuß, und zwar so fest, daß er kaum Luft bekam. Wenn die Leinwand dann langsam trocken wurde, zog sie sich immer mehr zusammen, und dem Patienten ging es immer schlechter. Doch diese Bestrafung wurde mit einiger Vorsicht angewendet; wenn sie vor sich ging, war ärztliches Personal zur Stelle, um darauf zu achten, daß der Patient nicht das Bewußtsein verlor; wenn sein Puls schwächer wurde, wurde der Wickel gelok-kert.

Alles in allem wurden die medizinischen Formen der Bestrafung ziemlich großzügig verabreicht. Es genügte, wenn der Patient fröhlich, oder auch im Gegenteil, wenn er unglücklich schien, wenn er Zufriedenheit zeigte oder zu ruhig war — jede Art Abweichung, die den Psychiatern verdächtig scheinen mochte, genügte ihnen als Grund zur Annahme, der Patient sei krank. Es genügte, um mit ihrer Behandlung zu beginnen.

FRAGE: Sehen Sie irgendeine Hoffnung für die Menschenrechte, für Redefreiheit in der Sowjetunion?

BUKOWSKY: Ein Versuch, das System wieder auf stalinistischen Kurs zu bringen, wird meiner Meinung nach in unserem Lande viele Leute mit verschiedener Ideologie, Nationalität und Meinung einander näher bringen und zum Kampf gegen eine solche Wendung der Dinge vereinigen. Er wird eine gemeinsame Grundlage für den entscheidenden, letzten Kampf gegen eine solche Entwicklung schaffen. Ich bin der Meinung, daß eine solche Entwicklung (zum Stalinismus) in unserem Lande keinen Erfolg haben kann, aus dem guten Grunde, weil es genügend Leute gibt, die bereit sind, dies um den Preis ihres Lebens zu verhindern.

Welchen Glauben ich habe an den Sieg der Sache; für die ich lebe und arbeite? Das ist schwer zu sagen — ich bin kein Prophet, und ich kann nicht vorhersagen, was in einigen Jahren auf der politischen Bühne geschehen wird. Doch wie mir scheint, wächst die Zahl jener Leute von Tag zu Tag, die einsehen, daß gegen die ständige Gesetzlosigkeit in unserem Lande ein offener, öffentlicher Protest notwendig ist.

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