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Verheimlichte Freßsucht

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Anna K., 30 Jahre alt, ist verheiratet, Lehrerin. Anna K. kommt zurecht in ihrer Ehe, auch im Beruf, sie hat Freunde und Freundinnen. Eigentlich führt sie ein ganz normales Leben, gäbe es da nicht jenes heimliche Laster, das der Lehrerin alle paar Tage die Herrschaft Uber sich entreißt

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Anna K., 30 Jahre alt, ist verheiratet, Lehrerin. Anna K. kommt zurecht in ihrer Ehe, auch im Beruf, sie hat Freunde und Freundinnen. Eigentlich führt sie ein ganz normales Leben, gäbe es da nicht jenes heimliche Laster, das der Lehrerin alle paar Tage die Herrschaft Uber sich entreißt

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Meist gegen Abend überfällt Anna ein Heißhunger, den sie nur durch regelrechte Freßorgien zu stillen vermag - um sich gleich darauf, voller Schuldgefühle und panischer Angst, dick zu werden, wieder zu erbrechen. Anna K. leidet an Bulimie (gr. bous=Ochse, limos=Hunger), zu deutsch: Eß-Brech-Sucht.

Lange Zeit in die von den Betroffenen selbst gewahrte Heimlichkeit verbannt, dringt die Bulimie als neue Anorexie-Variante immer mehr ins öffentliche Bewußtsein. Prominente Fälle, wie etwa der der Lady Di, tragen dazu bei, sie „gesprächsfähig" zu machen.

Aus der Tabuzone holt das die Krankheit allerdings nicht heraus. Zu wenig greifbar, auch für die Wissenschaft, ist se noch, zu groß vor allem die Scheu, an eine ihrer mutmaßlichen Hauptursachen zu rühren, den Normen und Zwängen der Wohlstandsgesellschaft.

Die Geschichte des Eß-Brech-Verhaltens ist alt: Schon die Römer, so Stefan Wiesnagrotzki, Oberarzt an der psychosomatischen Station der Wiener Universitätsklinik für Psychiatrie, pflegten zwecks Gewichtsregulierung zu erbrechen. Neu sei das „epidemische Auftreten" derBulimie: Drei Prozent aller Schülerinnen und Studentinnen sind in Österreich bereits davon beroffen. 95 Prozent aller Bulimiekranken sind Frauen, das Durchschnittsalter bewegt sich zwischen 17 und 25 Jahren.

Den Bogen von den Römern zur Gegenwart beschreibt Wiesnagrotzki mit einem Stichwort: Dekadenz. „Wir kommen mit dem Wohlstand nicht zurecht", stellt der Mediziner fest. Sinnleere und Ziellosigkeit dominieren, der Wegfall überkomme-

ner Rollenbilder verstärkt die allgemeine Orientierungslosigkeit.

Dieser Zustand korrespondiert mit dem bei Bulimie-Kranken äußerst starken Gefühl der Minderwertigkeit. Was bleibt, ist zunächst die Flucht in die Leistung, in das Streben nach Erfolg und Anerkennung, danach, „gut genug" und „immer besser" zu werden. Von außen gesehen scheint das meist zu gelingen: Die Betroffenen bleiben unauffällig. Oft weiß nicht einmal der Partner von der Krankheit.

Hinter der glatten Fassade aber herrschen Hetze und Frustration. Sie verlangen nach „Ausgleich", der

Freßanfall ist vorprogrammiert. Renate Göckel, Psychologin und langjährige Bulimie-Therapeutin in Deutschland: „Mit Essen kann man sich innerlich ausfüllen, sich den Bauch vollschlagen. Auf psychischer Ebene wollen Eßsüchtige aber eigentlich etwas anderes erreichen. Sie wollen erfüllt sein, das heißt: Sie wollen in sich ruhen. Sie möchten... Vertrauen haben, Selbstvertrauen".

Das gesellschaftliche Schlankheitsideal, das „Diktat der Figur", schlägt bei B ulimie-Kranken doppelt fatal zu: Zunächst ist es eine der Ursachen dafür, daß Frauen verunsichert und unter Leistungsdruck gesetzt werden, um dann, wenn sie sich in den Eß-Brech-Zyklus „gerettet" haben, zur elementaren Bedrohung schlechthin zu geraten. Kleidergröße und Mode-

trend nehmen das Ich fest in den Griff.

Daß auch die Medizin für die Zunahme von Eßstörungen eine gewisse Verantwortung trägt, ist ein Faktum, mit dem Wiesnagrotzki nicht hinterm Berg hält. Die Medizin habe „ihr Scherflein dazu beigetragen", indem sie bestimmte, „wieviel und was man essen muß. Die Menschen haben so das Gefühl für die eigenen Bedürfnisse verloren." Das Essen sei zum „medizinischen Kult" gediehen, über den „ein gewisses Untergewicht gefördert" wurde.

Hilflose Therapeuten

Auf therapeutischer Seite steht man der „Bulimie" noch einigermaßen hilflos gegenüber. 1980 wurde das Krankheitsbild erstmals definiert und von anderen Formen der Anorexie unterschieden, die entsprechenden Nachfolgeuntersuchungen lassen aber noch keine weiteren Schlüsse zu. In Wien, wo neben Innsbruck und Salzburg auf der psychosomatischen Station des AKH eine stationäre Behandlung möglich ist, setzt man auf ein „multidimensionales" Therapieangebot, das verschiedene tiefenpsychologische Ansätze berücksichtigt.

Ganz ohne Psychotherapie scheint der österreichische Arzt Johann Semm bei der Behandlung von Bulimie- und anderen Sucht-Kranken auszukommen. Gemeinsam mit dem Techniker Peter Aichholzer hat er den „Brain-scanner" entwickelt, ein Gerät, das den per Elektroden angeschlossenen Patienten in nur wenigen Sitzungen von der Sucht zu befreien verspricht. Die Erfolgsquote beziffert Semm mit 95 Prozent. Rund 20 Arzt sollen das Wundergerät bereits verwenden.

Eine Hoffnung für Bulimie-Kran-ke? Wiesnagrotzki ist skeptisch. Noch lägen - trotz Anfragen - keinerlei klinische Studien über das Zustandekommen der sensationellen Erfolge vor. Außerdem sei das 350.000 Schilling teure Gerät bisher keinem Spital zur Verfügung gestellt worden: „Das macht mich stutzig." Der Hoffnung der Menschen, gesund zu werden, ohne etwas dafür tun zu müssen, kommt der Wunderscanner jedenfalls entgegen, so Wiesnagrotzki, Psychotherapie dagegen „ist harte Arbeit".

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