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Verleumdete Dissidenten

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(/wg)-„Überleben" - so Jurij Smimov freimütig zur FURCHE - war fast siebzig Jahre lang die Parole in der russisch-orthodoxen Kirche. Niemand habe geglaubt, daß sich etwas ändern werde. Erst der 30. April 1988 - Gorbatschows Rede anläßlich der , Millenniumsfeiern der russischen Orthodoxie - markierte die Wende.

Auch heute noch sind viele religiöse Menschen in Rußland vorsichtig. Eine Einstellung, die man auch in der Tschechischen Republik in ehemaligen kirchlichen Untergrundkreisen bemerkt. Seinerzeit konnte man beruflich nur vorankommen, wenn man zur Zusammenarbeit mit dem kommunistischen Staat bereit war. In diesem Zusammenhang gewinnt die Haltung der Dissidenten eine ganz andere Dimension als sie ihnen Smirnov - siehe nebenstehenden Beitragzugestehen will.

Man könnte fast sagen: Zuerst psychisch und physisch verfolgt, heute „zum Dank" totgeschwiegen oder verleumdet. Dissidentenschicksal - nicht nur in Rußland. Man denke nur daran, wie lange es gedauert hat, bis die neuemannten Bischöfe der CR und SR den Vertretern der Geheimkirche gedankt haben, und daß der ungeklärte Zustand für viele Untergrundbischöfe und -priester noch andauert.

Zurück zu Rußland: Die letzte Volkszählung, in der das Religionsbekenntnis noch erfaßt wurde, datiert auf da$ Jahr 1937. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung der Sowjetunion bekannte sich als gläubig. Die Partei hat dieses Ergebnis nie veröffentlicht, so Jurij Smimov. Man wollte nicht, daß aus der ideologischen Opposi-

tion der Kirche eine politische wurde.

Vor der sogenannten Revolution von 1917 gab es in Rußland 52.000 Gotteshäuser - bis 1922 hatten dann nur 100 Gemeinden Bestand. Erst Stalin setzte aus politischen Gründen die Kirche für seine Kriegsziele ein. Am 4. Juli 1943 rief er die vier letzten

russisch-orthodoxen Bischöfe zu sich - Details über diese Unterredung ruhen noch in Moskauer Archiven, so Smirnov - und eröffnete ihnen gewisse Zukunftsperspektiven. Der ängstliche Metropolit Sergej wagte nur zögernd auf Stalins Fragen, was man denn benötige, zu antworten: Man forderte ein paar Seminare für den Nachwuchs, Kirchenwiedereröffnungen, eine eigene Zeitschrift; Stalin ließ alles von einem Sekretär notie-

ren. Erst ein Scherz habe die Atmosphäre gelöst. Auf Stalins scheinheilige Frage, warum es denn mit dem kirchlichen Nachwuchs so schlecht bestellt sei, antwortete Sergej unter Hinweis auf Stalins Vergangenheit im Priesterseminar, daß die besten Kräfte ja in die Politik gingen. Zu der Zeit war die Kirche in Rußland tatsächlich am Absterben, Hunderttausende Gläubige hatten die Verfolgung nicht überlebt.

Das relativ gute Verhältnis von Staat und Kirche hat sich dann unter Nikita Chruschtschow geändert. Er träumte davon, 1980 den Kommunismus voll verwirklicht zu haben. Da hatte die Kirche natürlich keinen Platz. Man wollte sie nicht mehr langsam absterben lassen, sondern „etwas nachhelfen". Das führte dazu, daß die Hälfte der seit Stalins Gesinnungswandel eröffneten Kirchen geschlossen wurden. Vorwände hatte man bald gefunden: so zum Beispiel einen „schlechten baulichen Zustand". Von 15.000 Kirchen blieben nur mehr 6.500 übrig. Und das blieb so bis zur Perestrojka. Jurij Smimov weiß, wovon er spricht. Er hat dann als Öffentlichkeitsarbeiter des staatlichen Kirchenamtes in der Gorbatschow-Ära eine Propaganda-Aktion gestartet, die im Ausland zeigen sollte, daß es um die Religionsfreiheit in Rußland nicht so schlecht bestellt war, wie im Ausland berichtet. Smimov: „Als wir feststellten, daß man im Westen von einer dreimal schlechteren religiösen Situation in der Sowjetunion ausging, dachten wir, wir könnten guten Gewissens zugeben, daß die Lage nur schlimm ist."

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