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Verlust der Wirklichkeit

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Erst vor kurzem wurde an dieser Stelle anläßlich der Besprechung der von Hermann Kesten herausgegebenen Briefe von Joseph Roth das Fehlen einer umfassenden Roth-Monographie beklagt. Nun also ist ein solches Buch erschienen, großformatig, mehr als 200 Seiten stark, mit viel Text auf den umfangreichen Seiten. Es gibt mehr und weniger, als wir fürs erste erwartet haben.

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Erst vor kurzem wurde an dieser Stelle anläßlich der Besprechung der von Hermann Kesten herausgegebenen Briefe von Joseph Roth das Fehlen einer umfassenden Roth-Monographie beklagt. Nun also ist ein solches Buch erschienen, großformatig, mehr als 200 Seiten stark, mit viel Text auf den umfangreichen Seiten. Es gibt mehr und weniger, als wir fürs erste erwartet haben.

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Nämlich ganz und gar keine Roth- Biographie oder eine systematische Analyse seiner einzelnen Werke, etwa in stofflicher oder motivischer Hinsicht. Hartmut Scheible will weder die Aussage noch den Inhalt der einzelnen Bücher Roths deuten, sondern zeigen, auf welche Weise Sprache Erkenntnis zu vermitteln vermag. Scheibles Interesse gilt also vor allem Roths Büchern als Sprachkunstwerken, wobei der historische Kontext sowie politische Implikationen nicht ganz vernachlässigt werden.

Dabei will der Autor wenigstens in Umrissen das gesamte Werk Roths sichtbar machen. Sichtbar wird in der Tat verschiedenes, in unterschiedlichen Graden der Deutlichkeit. Die unorthodoxe Methode, zu der sich Scheible bekennt, hat freilich zur Folge, daß dieses Buch mehr für jene geeignet ist, die Roths Werk schon ziemlich genau kennen, und zwar in seinem gesamten Umfang, wie es der Verlag Kiepenheuer & Witsch in der dreibändigen Dünndruckausgabe vorgelegt hat. Wer diese Voraussetzungen erfüllt, wird in dem besprochenen Buch zahlreiche Anregungen, Erhellungen, interessante Interpretationen — meist vom Sprachlichen, Stilistischen her finden. Etwa über Roths Erzählhaltung, über Fiktion und Historie bei Roth (immer sprachlich belegt), über den „Verlust der Wirklichkeit“, über Roths Vorliebe für das isolierende „Tableau“, über den Zeitlupenstil mancher Stellen und vieles andere mehr.

Die Einfügung * eines umfangreichen Kapitels über Flaubert und Roth unter dem Titel „Erzählen und Erkennen“ motiviert Scheible mit

gewissen Gemeinsamkeiten der beiden Autoren und mit der Tatsache, daß Roth Flauberts Werk genau gekannt und geschätzt habe. Er macht auch auf Parallelen mit Balzac aufmerksam: wie in dessen „Comédie humaine" kommen auch in Roths Romanen immer wieder die gleichen Gestalten vor, freilich in verschiedener Funktion und in wechselnder Beleuchtung. Aber nicht nur durch gewisse Personen, sondern auch durch Motive und Schauplätze sind Roths Werke untereinander verbunden.

Was neben der mangelnden Systematik in dem Buch Scheibles Stört, zuweilen verstimmt, ist sein Hang zur Polemik. Mit früheren

Interpreten und Deutungsversuchen Roth geht er oft recht unsanft um. Das beginnt gleich auf der ersten Seite mit Hermann Pongs — „das perverse Lob des wandlungsfähigen und wortarmen Gelehrten" — und geht bis zur Kritik der Studien von Böning und Bronsen, ja er weist, auf einen Brief Torbergs gestützt, Roth sogar nach, daß er zuweilen das Apostroph falsch gesetzt habe. Aber hat Scheible Roths Manuskripte gesehen? Wir fragen deshalb, well er an anderer Stelle von den vielen Druckfehlern in den Werkausgaben spricht Völlig überflüssig erscheint uns die Polemik gegen „Hofmannsthal und das Kunstgewerbe“.

Dann 1st da noch ein anderes Handikap, für das der Autor freilich nichts kann: die umfangreiche Briefsammlung erschien, als er an seiner Arbeit schrieb, und er scheint nur einzelne Briefe Roths gekannt zu haben. Dankbar ist man dagegen für die umfangreiche, sieben große, engbedruckte Seiten umfassende Bibliographie. Sie ist nicht vollständig, aber man ersieht aus dieser doch, daß man sich — wenn auch oft nur in Feuilletons, Essays und Einzelstudien auf Dissertationsniveau — mehr mit Roth beschäftigt hat, als wir es bisher angenommen haben.

JOSEPH ROTH. Mit einem Essay über Gustave Flaubert. Von Hartmut Scheible. (Studien zur Poetik und Geschichte der Literatur.) Verlag W. Kohlhammer, Stuttgart. 202 Seiten.

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