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Vernunft nicht in Sicht

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ICH sähe in der neuen Eska-lationsstufe des Konflik-tes zwischen den Staatschefs von Ägypten und Libyen nur au gerne einen Sahritt zur Einkehr der Vernunft in den Nahen Osten. Vielleicht sogar einen zweiten Schritt, wenn ich voraussetze, daß auch die Zerschlagung des palästinensischen Kriegspotentiials mit syrischer Duldung und Unterstützung bereits einen Seihritt in dieser Richtung dargestellt hat.

Und auf den ersten Blick scheint es auch durchaus legitim, den zunehmenden Zorn des ägyptischen Staatschefs Sadat auf seinen Nachbarn Gaddafi sowie die Entmaohtung der im Libanon von armen Flüchtlinigen zu einer Quasi-Besatzungsmacht herangewachsenen Palästinenser als Teil-

siege der Vernunft zu deuten. Denn waren nicht in den vergangenen Jahren die Palästinenser das Haupthindernis für jede Friedensinitiative im Nahen Osten? Und ist nicht in erster Linie Gaddafi der Anstifter und Fi-nancier einer nicht abreißenden Kette wahnwitziger Terroranschläge und einer der Haupt-verantwortlichen für ein sich weltweit verschärfendes Klima der Gewalt, in dem sich das Mittel längst vom Zweck emanzipiert und verselbständigt hat und das immer größere Bereiche der menschlichen Gesellschaft infiziert?

Das alles trifft zu. Und zweifellos hat die Entimachtung der Palästinenser die Voraussetzungen für nahöstliehe Vemunftlösungen verbessert — vorausgesetzt, daß auch Israel ailfälligen arabischen Friedensfülhlem entgegenkommt. Und ein Sturz Gaddafis wäre ein Beitrag zur Entgiftung nicht nur der nahöstlichen Atmosphäre — vorausgesetzt, daß etwas Besseres nachkommt.

Der Faktor, der aber jede Hoffnung auf einen baldigen Einzug der Vernunft in die nahöstliche Szene alsbald wieder verblassen läßt, kündigt sich leider im Ver-. halten Satdiats gegenüber Syriens Staatsführer Asad an. Denn Sa-dats Angriffe auf Asad im Zusammenhang mit dessen „Verrat an den Palästinensern“ sind alles andere als Nadelstiche. Sadat (ebenso wie Asad oder Gaddafi) verfolgt keine Friedens-, sondern eine reine Machtpolitik ohne Rücksicht auf Interessen und Friedenswillen der Völker, wenn er Asad politisch zu isolieren sucht und damit Syriens Spielraum für eigene Friedensverhandlungen mit Israel beschneidet. Der soeben ' zwischen Syrien und Israel verabredete „kleine Grenzverkehr“ für Drusen auf den Golan-Höhen wäre ein positives Anzeichen in dieser Richtung.

Aber das Agreement mit Israel, das für die gesamte politisch und wirtschaftlich verheerte Region zum Ausgangspunkt des Aufbaues werden könnte, bedroht

natürlich die ägyptischen Großmacht-Interessen, die Sadat wesentlich geschickter und mit viel humaneren und sympathischeren Mitteln als Nasser, alber offensichtlich nicht weniger konsequent verfolgt. Der „Rais“, Nasser, hat dafür gesorgt, daß palästinensische Flüchtlinge niemals ein Problem für Ägypten werden konnten, als er sie im Gaza-Streifen festnagelte, der durch Enge und Not zur Brutstätte des Fanatismus wurde. Ägypten hat sich durch seine Separatabkommen mit Israel die Vorbedingungen für den wirtschaftlichen Aufschwung geschaffen. Sadiats Ausfälle gegen Asad deuten darauf hin, daß er, wenn es möglich ist, Syrien den-: selben, „ägyptischen“ Weg versperren mochte.

Und es deutet einiges darauf hin, daß nicht nur Ägypten den schwelenden Konflikt mit Israel erhalten will. Aber nicht, wie man einst so oft hörte, als einigenden Faktor des arabisahen Lagers, sondern zumindest ebensosehr als Stachel im Fleisch der Brudervölker, der verhindern soll, daß diese allzu großen Spielraum gewinnen und alfau mächtig werden. Vorbilder für ein strategisches Denken dieser Art bieten sich in Hülle und Fülle an — wir finden sie in unserer eigenen, europäischen Geschichte.

Sollte vernünftiges Verhalten

mit Handeln unter Bedachtnahme auf die berechtigten Interessen möglichst vieler anderer gleichzusetzen sein, ist Vernunft (ganz zu schweigen von so luxuriösen Werten wie Humanität) nirgends im Nahen Osten dn Sicht (aber wo sonst?).

Es sieht so aus, als wäre die Hoffnung auf eine „große“ Lösung der nahöstllichen Probleme auch nach der Ausschaltung der Palästinenser dazu verurteilt, noch längere Zeit eine Illusion zu bleiben. Wenn Hoffnung berechtigt ist, dann aHenifadl3 die, daß Asad an der Macht bleibt und genügend Spielraum erkämpft, seinerseits seinen separaten de-fiacto-Frieden mit Israel aufrechtzuerhalten — wie schon Ägypten vor ihm.

Immerhin war die Gefahr eines neuen nahöstlichen Krieges seit zehn Jahren niemals so gering wie jetzt, obwohl Israels einst schärfster Feind, Syrien, noch nie so stark war. Wenigstens die gröbste Unvernunft ist gegenwärtig vom unmittelbaren Schauplatz des Geschehens ferngehalten, ihr Exil heißt Libyen. Das ist schon etwas. Aber die Abwesenheit der gröbsten Unvernunft ist noch nicht Vernunft — ebenso wie man noch nicht von Menschlichkeit sprechen kann, wenn die extremsten Unmenschlichkeiten .unterbleiben.

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