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Verrater, Faschisten, Obskuranten“

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Die permanente Sowjetoffensive gegen Glauben und Religion wird an allen Fronten mit wechselnder Schwerpunktbildung geführt. Priester und Gläubige der russischorthodoxen Kirche, der litauischen katholischen Kirche, der Adventisten, der Baptisten, der Fundamentalisten und der Pfingstler haben kürzlich an den Obersten Sowjet appelliert, und gegen die neuesten Verfolgungsmaß-nahmen protestiert. Dieser Appell ist übrigens das erste ökumenische Dokument, das in der UdSSR zustandekam.

Der Priester Gleb Jakunin und der Theologe Lev Regelson haben unterdessen in einem Brief an den Generalsekretär des ökumenischen Rates der Kirchen, Dr. Philip Potter, festgehalten, daß das sowjetische Religionsgesetz vom Juni 1975 „einen überzeugenden, objektiven und jedermann zugänglichen Beweis dafür darstellt, daß es in der UdSSR eine staatlich sanktionierte religiöse Diskriminierung gibt“.

Studiert man das Buch des Vorsitzenden des Rates für religiöse Angelegenheiten beim Ministerrat der UdSSR, W. A. Kurojedow, „Die Religion und das Gesetz“, erkennt man sehr bald, was für ein Gummibegriff die „Gewissensfreiheit“ in der sowjetischen Praxis ist. „Freiheit“ und „ihre Auswirkungen“ haben in sowjetischer Sicht seltsame und durchaus verschiedene Aspakte. Die Inanspruchnahme des Rechts auf freies religiöses Bekennen und Wirken ist an zahlreiche Bedingungen gebunden.

Die atheistische Schulung der Sowjetjugend zeitigt nicht den erwünschten Erfolg. Der Direktor des Moskauer „Städtischen Hauses für wissenschaftlichen Atheismus“ diskutierte mit einer Korrespondentin der „Komsomolskaja Prawda“ darüber, daß zuviele junge Menschen auch heute noch eine „unzulängliche Einstellung gegenüber der Religion und dem Atheismus“ haben. Junge Funktionäre, die Lehrgänge im „Haus des Atheismus“ absolviert hätten, wüßten am Ende alles über Literatur, Kunst und Wissenschaft, aber nichts über Atheismus und Religion. Manche Absolventen behaupteten nachher, keine Zeit für das Studium des Atheismus gehabt zu halben. Auch kämpften viele Komsomol-Organisationen nur gegen die Folgen der Religiosität, statt ihre Ursachen zu eliminieren.

Ein anderer Korrespondent der „Komsomoliskaja Prawda“ interviewte kürzlich den Literaten Wladimir Tendrjakow über die Lebensauffassung der sowjetischen Jugend. Anlaß hiezu boten Leserbriefe, die sich damit beschäftigten, daß ein junges Mädchen aus der Jugendorganisation ausgeschlossen worden war, weil sie als Schmuckstück ein Kreuz getragen hatte. Der Schriftsteller gab zu, daß es bei den Teenagern offenbar an der fundamentalen antireligiösen Einstellung fehle. Das Tragen eines Kreuzes sei kein wirklicher Protest, nur „eine Imitation ausländischer Ideen und Weltanschauungen“ gewesen.

Diesen Beteuerungen zum Trotz sorgt in der Ukraine eine lebhafte Flüsterpropaganda dafür, daß die Einzelschicksale der Verfolgten ebenso wie die Vernichtung der Kirchen in breitesten Kreisen bekannt werden. Die Zeitung „Molod Ukrajni“ ereiferte sich darüber, daß sich im Kiew-Distrikt viele junge Paare, darunter zahlreiche Komsomol-Mitglieder, in einer Kirche trauen ließen.

In der ,Prawdia Ukraini“ erscheint seit August eine neue antireligiöse Kolumne, für Funktionäre werden zweiwöchige„wissenschaftliche

atheistische Kurse“ veranstaltet. Die Teilnehmer aus diesen Lehrgängen kommen nicht nur aus der Ukraine, sondern auch aus Weißrußland, Georgien, Litauen, Armenien, .Lettland, Estland und aus den Regionen Kaliningrad (Königsberg), Pensa und Orlow.

Die Zeitung „Turkmenskaja Iskra“ beschuldigt immer wieder Turkmenen in der freien Welt, „antisowjetische evangelische Literatur“ an.Heimatadressen gesandt zu haben. Die Absender werden als „Verräter, Faschisten und obskure Elemente“ bezeichnet.

Laut „Sowjetskaja Kirgizlja“ wagte es in der kirgisischen Republik ein baptistischer Arzt, in einem Spital Patienten zu bekehren, indem er ein Dokument ■kursieren ließ, in welchem „die historische Existenz und die Auferstehung Christi“ behauptet und begründet wurden.

In Kasachstan publizierte ein Verlag binnen weniger Monaten fünf antireligiöse Erziehungsibucher. Die „Kasachstanskaja Prawda“ beschäftigt sich ständig mit atheistischer Erziehung. Der Zeitung zufolge sei es einer der wichtigsten öffentlichen Anliegen, die Schulkinder mit kommunistischer Ideologie zu indoktri-nieren, damit sie sich am Kampf gegen die religiösen Ideologien beteiligen könnten. Stolz verkündet das Blatt, daß in zwei Mittelschulen der Stadt Karaganda alle Lehrer militante Atheisten seien. Nicht nur in den Lehrplan sei der Atheismus integriert, auch in Abendzirkeln besprechen die Schüler eifrig antireligiöse Themen.

In der Moldauischen Sowjetrepublik wurde von den Behörden angeordnet, daß die atheistische Beeinflussung der Bevölkerung zu verstärken sei. Man hatte entdeckt, daß religiöse Differenzen zwischen den Ehegatten in vielen Fällen zur Scheidung führen. In der Moldauischen Republik scheint der Einfluß der „Zeugen Jehovas“ besonders stark zu sein. Dieser Sekte wird behördlicherseits vorgeworfen, sie gewinne mit Miesmacherei gegen das Sowjetregime besonders die Jugend in den ehemals rumänischen Territorien.

Der Generalsekretär der „illegalen“ Evangeliumschristen (Bapti-ten), Georgij Vins, befindet sich In einem Zwangsarbeitslager in Jaku-tien. Er ist nierenlvank, erhält aber nicht die notwendige medizinische Betreuung. Der Lagerführer begründet dies damit: „Sie sind hier nicht in einem Sanatorium!“ Vins und seine Familie wären bereit, die Sowjetunion zu verlassen, wenn sie eine entsprechende Einladung aus dem Ausland erhielten, teilte ein Familienangehöriger Freunden, im Westen mit.

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