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Verscheuchung des Gewissens
Dieser Tage ging ein Foto durch die Presse: Bundeskanzler Helmut Kohl wird in Prag von Menschenmengen beschimpft. Vor allem ältere Frauen und Männer schütteln die Fäuste gegen Kohl. Es geschah bei der Unterzeichnung des deutschtschechoslowakischen Freundschaftsvertrages, und in diesem Vertrag wird die Vertreibung der Sudetendeutschen als Gewalttat bezeichnet.
Mehr als drei Millionen Menschen wurden 1945 vertrieben, viele von ihnen wurden getötet. Und das soll keine Gewalttat sein?
Als ich vor einiger Zeit mit der Schriftstellerin Libuse Monikovä sprach, war ich verblüfft, wie einseitig diese gebildete Pragerin, die seit mehr als 20 Jahren in Deutschland lebt, dieses Problem sah. Der Schulbetrieb des Kommunismus hat die Vertreibung der Deutschen verschwiegen oder als Akt der Gerechtigkeit gegenüber Nationalsozialisten gerechtfertigt. Statt der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit wurde verdrängt, und die Tschechen sind Weltmeister im Verdrängen.
Es war der Historiker Jan Mlynarik, der als erster gegen diesen Verdrängungsmechanismus ankämpfte. Er gehörte zur „Charta 77" und mußte 1982 ins Exil gehen, weil er versucht hatte, seine Landsleute an ihre Untaten zu erinnern, weil er sich bemühte, hinter der Propaganda die Wahrheit zu ergründen. Vaclav Havel bekannte dann als Präsident die Schuld gegenüber den Deutschen und wurde deswegen heftig angefeindet.
Mlynarik, ein Slowake, unterstützt den Tschechen Havel bei seinem Versuch, die Tschechoslowakei als Bundesstaat zu erhalten. Als'Parlamentarier im föderativen Parlament der ÖSFR spricht Jan Mlynarik heute offen davon, daß der künstlich wiederbelebte antideutsche Chauvinismus, wie er sich jetzt wieder äußert, „aus den tiefen Quellen der Unwissenheit über die historischen Tatsachen und auch aus dem schlechten Gewissen" schöpfe.
Ehemalige Kommunisten verbünden sich mit Nationalisten, um weiter das Volk einzulullen und zu verhindern, daß die Konfrontation mit der Wahrheit zu einer Katharsis führt. Schlechtes Gewissen und Erinnerungen würden jetzt mit lautem Geschrei verscheucht, sagte Mlynarik seinem Freund, dem Schriftsteller Ota Filip, in einem Interview in der „Frankfurter Allgemeinen".
Die Vergangenheit könne man nicht „bewältigen", meinen kluge Leute. Man kann aber auch nicht vor einer Auseinandersetzung mit ihr davonlaufen. Und es ist eben so, daß sich jedes Volk mit seiner eigenen Vergangenheit auseinandersetzen muß.
Natürlich ist es einfacher, auf die Schuld der anderen hinzuweisen, als die eigene zu bekennen.
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