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Verschulte Kindheit

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Die Eltern sollen wählen können. Läßt man ihnen eine Wahl? Am Montag berät die Schulreformkommission das Modell einer ganztägigen Schulform. Unter Vorzeichen.

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Die Eltern sollen wählen können. Läßt man ihnen eine Wahl? Am Montag berät die Schulreformkommission das Modell einer ganztägigen Schulform. Unter Vorzeichen.

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„Ein neues, flexibles Modell einer ganztägigen Schulform“ soll unter Berücksichtigung der Ergebnisse der seit langem laufenden Schulversuche „geschaffen werden, in dem Schülerinnen und Schüler an den Nachmittagen auch ohne konkrete Anwesenheitspflicht Aufnahme finden“.So steht es im Arbeitsübereinkommen der Koalitionsparteien.

Die Umsetzung dieser eindeutigen Zielvorgabe sorgt ebenso wie schon bei anderen eindeutigen Formulierungen des Koalitionspaktes — etwa bei der Wahlrechtsreform (FURCHE 19/1988) — für einige Schwierigkeiten.

Im Frühjahr dieses Jahres wurden erste Überlegungen bekannt, wie dem Arbeitsübereinkommen entsprochen werden könnte. Daraufhin wurde Unterrichtsminister Hüde Hawlicek von ihren Parteifreunden heftig kritisiert und der Vorschlag in der AZ als „fauler Kompromiß“ bezeichnet. Die „Kinderfreunde“ verlangten, vorerst überhaupt auf ein solches Modell zu verzichten und statt dessen den Familien das herkömmliche Modell der Vormittagsschule und am Nachmittag Förderung im Hort anzubieten. Heinrich Keller, Zentralsekretär der SPÖ, verteidigte aber den Kompromiß und verwies auf den Bedarf, der durch zunehmende Erwerbstätigkeit der Frauen bestehe. Wenn also auch eine sehr gemilderte Ganztagsschule oder Tagesheimschule komme, sei das gegenüber den Schulversuchen, die nur 15 Prozent aller Schulen abdecken, ein Fortschritt, meinte Keller im April.

Der Schulsprecher der ÖVP, Gerhard Schaffer, wiederum verlangte, daß die Tagesheimschule als klarer Favorit der Schulversuche so rasch wie möglich in das Schulsystem übertragen werden sollte.

Am 20. Juni steht nun das Thema auf der Tagesordnung der Sitzung der Schulreformkommission. In einer zur Vorbereitung für diese Sitzung vom Unterrichtsministerium versandten Unterlage werden einerseits in einer Punktation die notwendigen formalen Schritte aufgelistet, und in einer „Vorbemerkung“ sind die Maßnahmen erläutert: Die Schule mit ganztägiger Betreuung umfaßt den Unterricht, (allenfalls) zusätzliche Freigegenstände und“ unverbindliche Übungen, täglich eine gegenstandsbezogene Lernstunde und individuelle Lern-und Freizeit. Betroffen wären die Volksschule, die Hauptschule und die Unterstufe der Allgemeinbildenden höheren Schule. Eine Ko-stenbeteüigung der Eltern ist vorgesehen.

Als Begründung wird unter anderem angeführt, daß nach einer vom IFES-Institut durchgeführten repräsentativen Befragung unter österreichischen Familien „25 Prozent der Befragten vor allem an einer ganztägigen Betreuung sehr interessiert“ wären, davon „sechs Prozent nur an einzelnen Tagen“.

Eine genauere Nachfrage des Katholischen Familienverbandes hat ergeben, daß 19 Prozent an einer ganztägigen Betreuung Interesse hätten. Sechs Prozent waren zwar an einer ganztägigen Betreuung interessiert, dies aber nicht an allen Tagen der Woche. 27 Prozent hatten nur an einer kurzfristigen Betreuung Interesse, wenn sich zeigt, daß das Kind/die Kinder Lernschwierigkeiten haben, weitere 23 Prozent an einer kurzfristigen Betreuung in Notzeiten, etwa bei Krankheit der Eltern. 24 Prozent der Befragten haben überhaupt kein Interesse.

In der Unterlage wird wohl festgehalten: „Den Eltern wird freigestellt, ob sie ihr Kind zur ganztägigen Betreuung anmelden oder nur den Pflichtunterricht besuchen lassen.“ Die Flexibilität des Modells wird aber dahingehend interpretiert, daß „die Gestaltung davon abhängen wird, ob sich alle Schüler für die ganztägige Betreuung an allen Schultagen (außer Samstag nachmittags) anmelden werden oder ob sich die Anmeldung nur auf einen Teü der Schüler oder Schultage bezieht“. Noch im Aprü schrieb Ministerin Hawlicek als Begründung, daß „die Ergebnisse der Schulversuche - vor allem des Schulversuchs* Ganztagsschule — durchwegs positiv“ sind.

Zwar stellt sie selbst fest, daß eine Mischform Ganztagsschule und Tagesheimschule nicht möglich ist, will aber einen „flexiblen Rahmen“ für „verschiedene Varianten“. Dem grundsätzlichen Bekenntnis zur Freiwüligkeit folgt aber die Einschränkung: „Wenn eine solche Variante die Ganztagsschule ist, müssen an solchen Standorten natürlich die Kinder die ganze Woche die ganztägige Schulform besuchen.“

Von Freiwilligkeit ist keine Rede mehr. Konsequent wird daher auch in einer Punktation die Möglichkeit vorgesehen, die ganztägige Schulform als „Fünf-Tage-Schule“ zu führen, was implizit nur an der Ganztagsschule möglich ist.

Liest man die Unterlage für die Montag-Sitzung genau, ist Skepsis angebracht. Diese wird noch größer, wenn man die frühere Stellungnahme kennt, die unter dem Namen der Unterrichtsministerin im Aprü 1988 veröffentlicht wurde: Davon wurden nämlich sehr viele Formulierungen in die „Vorbemerkung“ des Sitzungspapiers übernommen, allerdings gemildert um manche politische Eindeutigkeit.

Ein Modell oder zwei Modelle, freiwillig oder verpflichtend, Zwang oder Freiheit? Die Entscheidung steht bevor.

Der Autor ist Generalsekretär des Katholischen Familienverbandes Österreichs.

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