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Versöhnung - oder Gericht ?

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Dayan hat am Tage des Kriegsausbruches festgestellt, der neue Krieg solle als „Jom-Kippur-Krieg“ in Israels Geschichte eingehen. Kippur heißt bekanntlich „Versöhnung“, und wenn — durch ein Wunder — dieser blutigste und schwierigste aller Kriege des Judenstaates, der gerade in das 25. Jahr seines Bestandes fiel, mit einer „Versöhnung“ der kriegführenden Völker enden sollte — woran allerdings kein Mensch glaubt —, dann wäre der Name nicht schlecht gewählt. Aber der Generalstabschef El'azar wollte den Krieg lieber „Tag des Gerichtes“ nennen — wie der Jom Kippur auch in der Liturgie heißt.

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Dayan hat am Tage des Kriegsausbruches festgestellt, der neue Krieg solle als „Jom-Kippur-Krieg“ in Israels Geschichte eingehen. Kippur heißt bekanntlich „Versöhnung“, und wenn — durch ein Wunder — dieser blutigste und schwierigste aller Kriege des Judenstaates, der gerade in das 25. Jahr seines Bestandes fiel, mit einer „Versöhnung“ der kriegführenden Völker enden sollte — woran allerdings kein Mensch glaubt —, dann wäre der Name nicht schlecht gewählt. Aber der Generalstabschef El'azar wollte den Krieg lieber „Tag des Gerichtes“ nennen — wie der Jom Kippur auch in der Liturgie heißt.

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Hier kommt das einzigartige Phänomen israelischer Existenz wieder zum Vorschein: die „Welt“ —verkörpert vor allem durch den Sicherheitsrat der UNO — sorgt dafür, und zwar seit dem ersten arabischen Krieg von 1948, daß Israel niemals einen vollen Sieg erringen darf. Immer, sobald seine Truppen in entscheidendem Vorteil sind, beeilt sich derselbe Rat, der untätig blieb, solange die Waagschale sich zugunsten der Araber neigte, Feuereinstellung zu befehlen — womöglich mit der Drohung von Sanktionen, womöglich mit Ultimaten verbunden. So war es Ende 1948, als (der jetzige Vizepremier) Yigal Allon auf einem großartigen Vormarsch in den Sinai eindrang, El Arisch vom Süden her bedrohte und die ganze ägyptische Armee vom Hinterland anschnitt — ähnlich wie jetzt Scharon dies mit der „dritten Armee“ Ägyptens am Ostufer des Kanals tat. Großbritannien, damals die Rolle spielend, die jetzt von den Sowjets gespielt wird, forderte ultimativ Israels Rückzug „über die Grenze“; Amerika, der „gute Freund“, macht sich diese Forderung zu eigen, wie es auch jetzt russische Demarchen unterstützt. Allon mußte zurück, die Ägypter waren gerettet, und ein fauler Waf-fenstillstaind kam an Stelle des erreichbaren Friedens zustande9f,o gg6

So war es 1956, als Rußland und dietUSA- gemeinsam Ben - Gurion. -zwangen, den eroberten Sinai und den Gazastreifen wieder zurückzugeben. So war es 1967, als die Sowjets drohten, mit Waffengewalt einzugreifen, wenn Israel wagen sollte, den — völlig unverteidigten — Suezkanal zu überschreiten, oder Damaskus zu besetzen. Auf „Rat“ der USA stimmte damals Dayan einem Waf-

fenstillstand mit Syrien „binnen sieben Stunden“ zu, während seine Armee in ungehindertem Vormarsch war.

Es scheint ein internationales Gesetz zu sein: Israel darf nicht siegen; die Araber, auch wenn sie den Krieg unter Mißachtung aller Beschlüsse der Vereinten Nationen begonnen (oder wie 1967 durch die Verjagung der UNO-Truppen und die Blockade des Golfs von Akaba verschuldet) haben, dürfen nie „zu sehr gedemütigt“ als Besiegte, zu einem für Israel günstigen Frieden „gezwungen“ werden.

Dieses Gesetz wurde auch 1973 befolgt. Die Verletzung des Waffenstillstandsabkommens durch Ägypten und Syrien ohne vorangegangene Kündigung, während der Tagung der Vollversammlung der Vereinten Na-

tionen, blieb nicht nur ohne Tadel — was für einen Eindruck hätte ein solcher auf die anfangs siegreichen Araber gemacht? —, sondern Rußland und die afrikanischen Staaten, ja selbst Frankreich, erklärten, Israel sei der Angreifer, weil es „durch seine Weigerung, die Frucht des Sieges von 1967 aufzugeben“, den neuen Krieg „veranlaßt“ habe... Und die afrikanischen Staaten — die bisher von Israel, im Verhältnis seiner Kopfzahl — zwei- bis fünfmal soviel Entwicklungshilfe erhalten hatten, als von europäischen Großmächten, brachen ihre diplomatischen Beziehungen zum .Aggressor“ ab...

Der Krieg wurde tatsächlich von Israel „verschuldet“ — aber in einem ganz anderen Sinne, als es die UNO versteht. Mindestens vier Tage vor dem Jom Kippur verlangten nämlich die Generäle zwei Dinge: Vollmobilisierung der Reserven, die (zum Unterschied von den arabischen Armeen, wo sie einen Bruchteil der Kriegsstärke ausmachen) in Israel vier Fünftel der Streitkräfte darstellen; und einen sofortigen Schlag der Flugwaffe gegen die feindlichen Konzentrationen — ähnlich wie 1967. Die Regierung lehnte beide Vorschläge ab. Am Freitag fand um 10 Uhr eine Sitzung des Ausschusses für Sicherheit und Äußeres statt; 27 Stunden vor Kriegsbeginn. Tages-ondnungj/Österreichs Verhalten gegenüber den russischen Durchwanderern; kein Wort über die Kriegsgefahr. Bald nach der Sitzung verlangte El'azar neuerlich: Mobilisierung und Flugzeugangriff. Es steht fest, daß beides (oder aucl^nur eines von beiden) entweder den Krieg überhaupt verhindert, oder aber die Uberquerung des Suezkanals äußerst

verlustreich für die Ägypter gemacht hätte. Wieder lehnte Goida Meir ab. Ihr einziges Zugeständnis war eine „Teilmobilisierung“ am Vorabend des Versöhnungstages.

Wie an jedem anderen Jom Kippur wurden um 15 Uhr der Rundfunk und das Fernsehen für 27 Stunden außer Betrieb gesetzt, so daß dann auch nicht die in Israel übliche Einberufung von Reservisten über den Rundfunk möglich war.

Mehr noch: die Jerusalemer Brigade, die die ganze 160 Kilometer lange Kanalfront zu decken hatte — eine einzige Infanteriebrigade gegenüber sieben Nildivisionen! — schickte einen ansehnlichen Teil der Mannschaft über den Feiertag nach Hause. So kam es, daß längs des Kanalufers von jeder Kompanie samt Hilfstruppen, also von etwa

150 bis 160 Mann, nur „zwischen 25 und 45“ anwesend waren. Ausländische Korrespondenten sprachen von „700 Israelis gegen 70.000 Ägypter“. Das klingt sehr poetisch, ist aber doch etwas übertrieben.

Aber auch, wenn die Brigade vollzählig und in Alarmzustand gewesen wäre, hätten sich die Dinge nicht viel besser angelassen: ein Trommelfeuer — „eher ein Paukenfeuer zu nennen“, wie ein alter Offizier sagte — zerstörte die elektronischen Anlagen hinter der Front, überraschte einen Teil der Verteidiger außerhalb der Forts. •

Ein Glück im Unglück war, daß die Jom-Kippur-Ruhe auch auf alle Autobuslinien ausgedehnt war; nicht nur waren alle Straßen leer, sondern auch alle Chauffeure zu Hause oder in den Synagogen. Ais die „Teilmobilisierung“ in Gang kam, waren die Transportmittel zur Stelle und der Aufmarsch zur Front konnte beginnen.

Wie es möglich war, daß die paar hundert Infanteristen, die paar Dutzend Tanks (man spricht von siebzig Panzern an der syrischen Front und von nicht viel mehr in der Kanalzone) die vielfache Übermacht während 48 Stunden aufhielten, ist ein Rätsel. Die gefährlichste Lage auf dem Golan, wo am ersten Tag achthundert Tanks gezählt wurden. Am zweiten Schlachttag hatte der israelische Kommandant noch insgesamt 21 Panzer gefechtsbereit — und das genügte, um die Wendung herbeizuführen.

Das Versagen der Syrer — deren Soldaten und Offiziere sich tapfer schlugen, wie schon aus der Tatsache hervorgeht, daß Zahal nur 300 syrische Gefangene gemacht hat — wird auf drei Tatsachen zurückgeführt: auf ihr starres Beharren auf der „Doktrin“, was ihre Beweglichkeit schwer beeinträchtigte; auf ihr schlechtes artilleristisches Können, so daß im Kampf Panzer gegen Panzer die Israelis fast immer die Oberhand hatten; und hauptsächlich auf die Luftherrschaft der Blauweißen, die einen Großteil der syrischen Fahrzeuge zusammenbombten, ehe diese in den Kampf eingreifen konnten. Die Mobilisierung Zahals und der Ubergang zum Gegenstoß binnen 48 Stunden gerade an dieser Front waren eine großartige Leistung. Die Improvisation gelang. Als die Reservepanzerbattaillone antraten, waren die Syrer schon erschöpft und zum Rückzug bereit. Aber auch die Israelis hatten geblutet. Man schätzt, und mit Vorbehalt sei dies wiedergegeben, daß an der Golan-front insgesamt 200 Zahal-Panzer außer Gefecht gesetzt wurden, davon etwa 50 unwiederbringlich zerstört, die anderen 150 reparierbar. Dieselbe Quelle schätzt, daß die Syrer etwa 200 ihrer Panzer, darunter T-62 und viele andere, die erst 400 Kilometer Fahrt hinter sich hatten, unversehrt in Israels Händen ließen — offenbar, weil die Besatzungen unter dem Hagel der israelischen Flieger sich so eilig in Sicherheit brachte, daß sie nicht einmal ihre Fahrzeuge sprengen und deren Kanonen unbrauchbar machen konnte.

Das Ende des syrischen Feldzuges nahte, sobald die Juden bei Sassa, auf der Straße nach Damaskus, und bei Kfar Schams (neben der Hauptstraße nach Amman) Defensivpositionen bezogen hatten. Etwa 600 Quadratkilometer Terrain waren „in Richtung Damaskus“ gewonnen. Warum der Vormarsch nach der syrischen Hauptstadt gebremst wurde, ehe noch die syrische Armee vernichtet war — warum die Südhälfte der Galanfront bei den Waffenstillstandsgrenzen stehenblieb und nicht den geringsten Versuch machte, längs des Jarmuktales vorzustoßen und Jordanien von Syrien her zu isolieren — das fragen bittere Kritiker in Israel. Es war ein „halber Sieg“, ein „Sieg ohne Lorbeerkränze“, wie sich General Peled in einem Zeitungsartikel ausdrückt.

Erklärungen gibt es viele. Dayan persönlich, oder Goida Meir, die Ein-

fluß auf die Kampfhandlungen nahm, wollten nicht die Russen durch die Eroberung von Damaskus noch mehr reizen, sagen die einen. Ein Geheimabkommen mit König Hussein habe bedingt, daß Israel sich von Kampfhandlungen längs seiner Grenze zurückhalte, erklären andere. Annehmbar ist die Begründung, daß die Hauptfront der Sinai war, wo die Ägypter mutmaßlich 70.000 Mann über das Kanalufer gebracht hatten, wo ihre 13 Pontonbrücken im wesentlichen noch intakt waren und weitere Venstärkungen erwarten ließen — und wo am sechsten Tag vermutlich-600 ägyptische -Panzer, unter dem Schutz von mehr als 1000 Artillerierohren, zum Angriff massiert waren. Zu dieser Hauptfront wurden daher alle in Syrien entbehrlichen Kräfte instradiert; im Norden begnügte man sich mit einer guten Defensivlinie.

Am Sonntag, dem 14. Oktober, stürmten die Ägypter an der ganzen Front. Sie waren überall zu schwach, um durchzubrechen. Ihre Hauptverluste aber erlitten sie im Südabschnitt, wo sie Scharon angriffen und mindestens 200 Panzer, hauptsächlich zwischen Ismaila und dem Bittersee, auf 20 Kilometer Front liegen ließen. Der weitere Verlauf ist bekannt: Scharon mußte hart kämpfen (mit seinen Vorgesetzten), ehe er die Erlaubnis erhielt, ein kleines Kommando aufs Westufer zu entsenden, das dort — zu seinem Glück

— auf „palästinensische“ Truppen stieß, deren Berichte über einen israelischen Durohbruch die Ägypter nicht ernst nahmen. Die kleine israelische Abteilung wurde allmählich verstärkt; ein „Nest“ ägyptischer Truppen, das Widerstand leistete, wurde von Erik Scharon angegriffen und vernichtet, drei Brücken über den Kanal wurden geschlagen und Scharon meldete am 18. Oktober, daß er noch fün^ oder sechs Tage brauche, um die dritte Armee zu vernichten. Diese Tage wurden ihm nicht gegeben. Am 22. Oktober stimmte Israel der Feuereinstellung zu, obwohl es genausogut wie Syrien weitere 48 Stunden hätte „deli-berieren“ können, um Scharon Zeit zu lassen, seinen Sieg zu vollenden. Die Kritik der Opposition richtet sich nicht so sehr dagegen, daß man dem Beschluß des Sicherheitsrates zustimmte — das war unvermeidlich

— als gegen die Hast, mit der dies geschah.

Wie schon oft, halfen auch diesmal die Araber den Juden, indem sie am 23. Oktober noch weiterkämpften, Flugzeuge einsetzten (und verloren) und Scharon die Möglichkeit gaben, Suez von Süden her abzuschneiden und die sogenannte „dritte Armee“, die unterdessen vermutlich auf nicht mehr als 25.000 Mann zusam-

mengeschmolzen sein dürfte, in der Wüste einzuschließen.

Ein Gebiet von 100 Kilometer Länge und 30 bis 40 Kilometer Tiefe war am Westufer erobert, während die beiden ägyptischen Armeen am Ostufer nur 5 bis höchstens 10 Kilometer Tiefe erreicht hatten, nicht genug, um von dort aus so zu operieren, wie es Scharon vom Westufer aus kann.

Der Krieg der 18 Tage hat somit im Norden wie im Süden mit Terraingewinn für Israel geendet; die Luftkämpfe haben die Araber *etwa 400 Flugzeuge gekostet. Israel hat (nach Angafeeri -äesJ Pentagon; israelische Zahlen fehlen) 105 bis 120 Flugzeuge verloren, davon etwa 20 im Luftkampf, alle anderen durch Badenabwehr. Nach Zerstörung eines großen Teils der arabischen Flugabwehr besaß Israel so gut wie absolute Luftherrschaft — aber die Araber haben noch immer (mit dem Irak und Jordanien) mindestens 600 Flugzeuge zur Verfügung.

Wenn die Araber wollen — und sie wollen es —, können sie sich trotz ihrer drei- bis viermal größeren Verluste als Sieger auch im Luftkampf fühlen.

Das gleiche gilt annähernd auch für die Panzer. Ägypten und Syrien hatten bei Kriegsbeginn zusammen 4500 Panzer; sie verloren davon 1400 bis 1500; die Israelis, die vermutlich nur 200 Panzer unwiederbringlich verloren haben und etwa ebenso viele verwendbare erbeuteten, dürften 600 Panzer in Raparatur haben. Der Verlust an arabischen Panzern wurde von den Russen wettgemacht; wie viele Panzer Israel von den USA erhielt, ist ungewiß. Zahlenmäßig dürften auch jetzt noch die Araber ein kleines Übergewicht der Panzerkräfte haben. Sie können sich daher auch in dieser Beziehung als „Sieger“ fühlen. Wie (die Russen, so zählen auch die Araber ihre Toten nicht — sie verfügen über mehr als 100 Millionen Menschen. Israel, mit seinen knapp 2,800.000 Juden und der grauenhaften Erinnerung an die Ausrottung von sechs Millionen in der Hitler-Zeit, leidet wirklich — und nicht nur rhetorisch — unter dem Tod, unter der Invalidität jedes einzelnen seiner Bürger.

Das Gesamtresultat: Israel spricht von Sieg und die Araber sprechen von Sieg. Mehr noch: die Araber haben durch ihren Krieg, mit all ihren Niederlagen, einen ungeheuren politischen Gewinn davongetragen: sie haben die USA gezwungen, sich mit Rußland auf ein Programm zu einigen, das — wenn nicht ein neues Wunder geschieht — wieder mit einer politischen Niederlage Israels, mit einem Rückzug weit hinter die Sicherheitsgrenzen zurück enden kann.

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