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Verstellte Sicht

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Haben wir aus der Geschichte der Ersten Republik gelernt? Immerhin wäre es damals sicher nicht möglich gewesen, in einer von den Bildungsinstitutionen aller Parlamentsparteien organisierten Veranstaltung so offen über die heißen Themen der Vergangenheit zu diskutieren.

Was noch lange nicht heißt, daß sich die Exponenten der verschiedenen „Lager“ in ihrer Betrachtung der Ereignisse näher gekommen wären. Das begann schon bei der Analyse der wirtschaftlichen

Ursachen der Finis Austriae. Alois Brusatti (Wien): Die hohe Arbeitslosigkeit - 650.000 Menschen zum Teil seit Jahren ohne Arbeit - war mit ein Faktor des Verhängnisses. Fritz Weber (Wien): Die Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen des Ständestaates sollten nur den Nationalsozialisten den Wind aus den Segeln nehmen...

Walter B. Simon (Wien) versuchte, die ausschließlich negative Beurteilung der Ersten Republik zurechtzurücken. Immerhin hätte die Demokratie 15 Jahre lang halbwegs funktioniert, hätte auch viele positive Leistungen erbracht. Demgegenüber Hans Kernbauer (Wien): Ignaz Seipel wollte mit seiner Sanierung 1922 lediglich die „Arbeiterbewegung“ aus ihren Positionen verdrängen. Emmerich Talos (Wien): Die Verfassungsreform von 1929 sollte den Parlamentarismus zurückdrängen.

Und Karl Haas zählte alle jene Kräfte auf, die sich gegen die „Arbeiterbewegung“ verschworen hätten, von der Christlich-Sozialen Partei und den Bauern über Heimwehren, Industrie, Kirche und Bürokratie bis zum Bundesheer. Daß alle diese „Kräfte“ auch bei freien Wahlen stets eine satte Mehrheit erreichten, blieb ungesagt.

Die Marschrichtung der jungen (linken) Historiker wurde von Haas offen und triumphierend aufgezeigt: Schluß mit der „Koalitionsgeschichtsschreibung“ der Nachkriegszeit und ihrem Gefasel von der „geteilten Schuld!“

Helmut Rumpier (Klagenfurt) meinte dazu, das bedeute die „Fortsetzung des Bürgerkriegs mit der Hilfe der Historiographie.“ Aber selbst als sich Norbert Leser dazu bekannte, den Begriff der „geteilten Schuld“ geprägt zu haben, keineswegs im Sinn von „zu gleichen Teilen“, provozierte dies nur die hämische Bemerkung Emmerich Talos': „Eine geteilte Schuld kann ich nicht anerken-

Dabei erteilten auch die Sprecher des „bürgerlichen Lagers“ den Repräsentanten der Christlich-Sozialen, später des Ständestaates mitunter so kritische Zensuren, daß sich mancher gewünscht hätte, auch etwas verteidigende Stimmen zu hören.

Auf der Gegenseite machte dies keinerlei Eindruck. Zwar kam die These aus dem Publikum: Die Sozialdemokraten hätten 1918 die Chance verpaßt, gemeinsam mit den Kommunisten in Ungarn und Bayern eine Räterepublik zu errichten, wodurch Europas Entwicklung eine ganz andere Richtung genommen hätte... Aber nur Simon protestierte dagegen — und wurde aus dem Auditorium heraus als „Kalter Krieger“ apostrophiert.

Wird hier an einer Dolchstoßlegende der Ersten Republik gebastelt?

Wie konnte es wirklich dazu kommen, daß im März 1938 der Anschluß nicht nur von außen erzwungen, sondern auch im Innern durchgeführt wurde? Rudolf Ardelt (Linz) erklärte, aus wie vielen „Partiellen Identifikationen“ die Menschen zum Nationalsozialismus stießen, vom Antisemitismus bis zum Deutschnationalismus.

Fritz Fellner (Salzburg) sah eine der Schwierigkeiten, diese Epoche zu historisieren, in der NS-Gesetzgebung der Nachkriegszeit, die nicht nur Straftaten, sondern politische Uberzeugungen, ja bloß formelle Mitgliedschaften unter Strafe stellte.

Der „Reder-Handschlag“, die „Ereignisse von 1986“ kamen mehrfach zur Sprache. Im Saal schien nur eine einheitliche Stimmung zu herrschen. Niemand erwähnte die Möglichkeit, man könnte auch anders darüber denken ...

Haben wir gelernt? Sicher — vieles unterscheidet die Zweite von der Ersten Republik: die Sozialpartnerschaft, die Absage an die Wehrverbände, der Wertewandel im Sinn verstärkter Individualisierung und Sensibilität, die neugewonnene nationale Identität (Ernst Bruckmüller, Wien) sind sicher Positiva. Ob „1986“ wirklich geeignet war, „Nebel wegzuwischen“ (Charlotte Teuber-Weckersdorf, Wien), sei dahingestellt.

Wirklich „weiser für die Zukunft“ (Adam Wandruszka zitierte J. C. Burckhardt) dürften wir jedoch erst dann werden, wenn wir anerkennen, daß jede Medaille zwei Seitfn hat — nicht nur die eine, jeweilsideologisch geprägte. Und wenn wir uns bewußt werden, wo die Grenze der Zumut-barkeit liegt. An diesem Nichtwissen ist die Erste Republik gescheitert.

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