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Verstümmelung und Schönheit

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Wenn jemand B. Brechts „Dreigroschenoper oder Rolf Hochhuths oder Peter Weiss’ Stücke mit einer Posse von Nestroy zu vergleichen versuchte, würde dies vor allem den Eindruck einer Inkonunensurabilltät erwecken. Trotzdem könnte das Erforschen der Ursache jener Inkommensurabilität zur näheren Bestimmung des modernen Theaters beitragen. Der fundamentale Unterschied besteht nämlich in der grundverschiedenen Beziehung zur Wirklichkeit. Brecht, Weiss, Hochhuth u. a. stehen darin viel näher einem Schiller, Kleist (ja sogar Hölderlin) als Nestroy, weil sie in ihren Stücken an das spiritualistische Erbe des 19. Jahrhunderts treu anknüpfen, wogegen Nestroys Beziehung zur Wirklichkeit noch auf den „kreatürlichen Realismus“ eines Shakespeare und Dante zurückweist.

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Wenn jemand B. Brechts „Dreigroschenoper oder Rolf Hochhuths oder Peter Weiss’ Stücke mit einer Posse von Nestroy zu vergleichen versuchte, würde dies vor allem den Eindruck einer Inkonunensurabilltät erwecken. Trotzdem könnte das Erforschen der Ursache jener Inkommensurabilität zur näheren Bestimmung des modernen Theaters beitragen. Der fundamentale Unterschied besteht nämlich in der grundverschiedenen Beziehung zur Wirklichkeit. Brecht, Weiss, Hochhuth u. a. stehen darin viel näher einem Schiller, Kleist (ja sogar Hölderlin) als Nestroy, weil sie in ihren Stücken an das spiritualistische Erbe des 19. Jahrhunderts treu anknüpfen, wogegen Nestroys Beziehung zur Wirklichkeit noch auf den „kreatürlichen Realismus“ eines Shakespeare und Dante zurückweist.

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Vor dem zweiten Weltkrieg wäre es allerdings niemandem eingefallen, die zeitgenössische Theaterproduktion mit Nestroys Schaffen zu vergleichen. Daß Dürrenmatt oder T. Wilder sich zu Nestroy melden, gehört gewissermaßen zu den Errungenschaften des zweiten Weltkrieges. Es war kein Zufall, daß die sogenannte Nestroy-Renaissance unmittelbar nach dem Ende des Krieges begann. In den Nachkriegsjahren wurde Nestroy aus zwei Gründen neu entdeckt: 1. Vor der europäischen Menschheit tritt (auf ein paar flüchtige Jahre) wiederum die nackte, demythologisierte und entideologisierte Realität hervor. Durch die Demythologisierung wurde nicht nur die Verstümmelung der Realität, sondern mittelbar auch ihre unaufhebbare Schönheit enthüllt. 2. Der unüberbrückbar schmerzliche Widerspruch zwischen Verstümmelung und Schönheit sprengt nach dem zweiten Weltkrieg fast alle „klassischen“ literarischen Formen. Nach Auschwitz war nicht nur jegliche Lyrik unmöglich geworden, man konnte in den ersten Nachkriegsjahren auch den grandiosen Zerfall des totalen Romans romantischer Provenienz (Doktor Faustus, Tod des Vergil) beobachten, der dem Anprall der Wirklichkeit nicht mehr standhalten konnte. Wenn auch jede Epoche ihre Frage nach der Möglichkeit der Kunst stellt, scheint die Zeit nach Auschwitz durch ein kaltblütiges Nicht-f ragen-Wollen gekennzeichnet zu sein. Durch das Verneinen der Frage wurde die Kunst zur Beute und Magd der Weltlüge — H. Broch würde von einer Versachlichung der Kunst gesprochen haben. Wenn ab und zu doch gefragt wurde, so geschah es unaufrichtig, theatralisch, aus bloßer Koketterie mit der totalen Destruktion, in bewährter Manier des Pilatus. Das zeitgenössische aufgeregte politische Theater ist voll solchen Fragens. — Hat der Idealismus das Verhältnis zur Wirklichkeit zerstört (und Brecht, Hochhuth, Weiss und andere gehören ja zu seiner regelrechten Nachkommenschaft), so hat Auschwitz — jene schattige Werkstatt seiner „Konkretisierungstendenz“ — die Wirklichkeit dermaßen verstümmelt, daß da geradezu ein perverser ontologischer Beweis erbracht wurde, daß die „banal niedrige“ Wirklichkeit endgültig zu „vergeistigen" (zu vergasen) beziehungsweise zu „konkretisieren“ (durch totalitäre Revolution aufzuheben) sei. Was hat in dieser sich fraglos aufhebenden Welt die Poesie noch zu suchen?

Eine einzige Form bewies noch ihre trotzige Widerstandsfähigkeit: Nestroys tragische Posse. Sie allein zeugt noch von der Wirklichkeit sozusagen zwischen den Zeilen, umzingelt und bedrängt durch das allmächtige Ein und Alles der ideologischen und ideosophischen Künste, die der Einführung oder Festigung des Totalitarismus, das heißt der normalisierenden Konkretisierung durch neue Auschwitz-Variationen dienen: Durch experimentelle Verstümmelung und Aufhebung der Wirklichkeit, durch Beweihräuchern verschiedener „konkreter Utopien“, durch surrealistisch rationale Programme, in denen Totschlag und Mord als höchste Expression des revolutionären Fortschritts (bei A. Bretin), als Enthüllung des zu brechenden Einen und Wahren (bei Max Bernse) „gesetzt“ werden…

Nestroy gelangte zur Form der tragischen Posse keineswegs aus Hellsicht oder ekstatischer Prophetie, sondern als einer der letzten Erben des zutiefst österreichischen Sinnes für Wirklichkeit, für geschaffene Wirklichkeit. Und die trug im Zenith des 19. Jahrhunderts bereits jene Grundmerkmale der fortschreitenden Verunstaltung (Nestroy entdeckt dabei scharfsinnig die Affinität dieses „Prozesses“ mit der Ideologie und Kosmologie des Fortschritts), die Nestroy im traditionellen Geiste des Dienstes an der Wirklichkeit durch die Form der gespenstisch bewegt tragischen Posse zu bannen versuchte.

Wenn Shakespeare die Realität der aufgehenden Neuzeit durch die abgründigen Gestalten seiner Tragödien (auf deren Grunde der Narr hockte) ausdrückte, so hat Nestroy das Ende jener Neuzeit durch die beweglichen Marionetten seiner tragischen Posse varausgezeichnet. Bei Shakespeare war die Gestalt, bei Nestroy nur noch der tragisch leergewordene, possenhaft bevölkerte Raum bestimmend, der da übriggeblieben ist, nachdem alles Menschliche im Abgrund des Menschen (an sich) verschwunden war. — Auch Kurt Kahl vergleicht im Untertitel seines Buches Johann Nestroy oder Der wienerische Shakespeare (in der Reihe „Glanz und Elend der Meister“) Nestroy mit Shakespeare, obzwar er sich um keine ernstere Begründung dieses Vergleichs bemüht. Sein Ziel war wohl eine Zusammenfassung der bisherigen Fakten und Ergebnisse der Nestroy-For- s chung — eine verdienstvolle und nötige Leistung. Kahls Buch sammelt enzyklopädisch das Material, jedoch es gerät von einer Anhäufung der geschickt in gut lesbare Kapitel gegliederten Fakten nicht zur wirklichen Synthese. Auch hier zeigt es sich, daß man zur erstrebten Synthese nicht durch einen „dialektischen Sprung“ aus der Quantität von Fakten zur neuen „synthetischen" Qualität gelangen kann, sondern nur auf dem Wege von der Gliederung zur Strukturierung, die ein Durchdenken der Fakten, ihre gegenseitige Durchlichtung voraussetzt. Erst von einer genetisch und historisch bestimmten Struktur ließe sich dann zur (wenn auch noch so linkischen) Synthese vorzudringen, und zwar durch einen neuen gedanklichen Akt, der gegen die Richtung der vorangehenden Gedankenstruktur, in Richtung zum Unbekannten und Ungedachten (weil Undenkbaren) sich zu bewegen hätte; also keineswegs durch einen weiteren dialektischen Sprung in jene sterile geisteswissenschaftliche Pseudomystik, die mit Vorliebe durch einen „universalen“ (verstehe: entmenschlichten) Humanismus, gewürzt wird oder in ihr viel wirksameres Gegenstück: in Ideologie. — Kahl verbleibt also auf der Ebene des Faktographischen eines inzwischen ziemlich lahm-, weil unverhüllt nihilistisch gewordenen Positivismus. Auch heute noch liefert jedoch dieser Positivismus durch bloße geschickt fleißige Anhäufung von Wirklichkeiten jenen gesegneten fruchtbaren Boden, in dem Grundfragen und Probleme einer tiefgreifenden strukturierenden Forschung gedeihen können. Gerade aus Kahls Monographie geht hervor, wie ungenügend zum Beispiel die unterscheidenden Konturen des Dichters und des Schauspielers Nestroy weder in ihrer prinzipiellen Verschiedenheit noch in ihrer entwicklungsgeschichtlichen Parallelität erörtert worden sind. Kahls Buch verrät indirekt, was alles noch nicht geleistet wurde, und in dem Sinne ist es ungemein anregend.

Zuletzt noch ein paar detailliertere

Hinweise: Karl Posti wird auf Seite sechsundsechzig irrtümlicherweise als Jesuit bezeichnet. Posti wächst jedoch im tschechischen Orden der Kreuzherren heran. — Das Verhältnis von Carls Theateruntemehmer- tum und Nestroys Schaffen spiegelt nicht nur eine geradlinige Beziehung von „Herr und Knecht“ wider, sondern ist geradezu fruchtbringend. Auch Nestroys spätere Hinwendung zum Schauspielerischen ließe sich teilweise ebenso politisch-soziologisch erklären, wie seine intensive dichterische Tätigkeit im Vormärz. — Die Konfrontation Raimund—Nestroy kann keineswegs durch die Feststellung: „Raimund ist der Startturm — sobald die Rakete Nestroy in die Höhe schießt, müssen wir uns um Raimund nicht mehr viel kümmern" (Seite 16) abgetan werden. Vieles würde da nicht nur die Hinweise auf Nestroys versachlichende Destruktion der Zauberwelt beleuchten, sondern vor allem eine Gegenüberstellung der dramatischen Gestalten. Knieriem bildet hier eine Drehachse. — Bei den Parodien müßte man tiefer zur Frage nach dem: „was“ eigentlich parodiert wurde vordringen, sonst unterscheiden wir uns nicht viel von der damaligen Kritik, die den parodistischen Stachel oft gar nicht wahrnahm. (Warum eigentlich? Auch das sollte durchdacht werden.) — Der Unverbesserliche — äußerdkh ein Nachkomme der französischen Charakterkomödie des 17. Jahrhunderts — erforderte auch eine eingehende Analyse vor seinem neuen sozial-politischen Hintergrund. — Abzulehnen ist der simplifizierende Vergleich von Nestroy und dem billigen nachrevolutionären Schopenhauerismus. Die tragische Posse steht nicht nur hoch über Schopenhauer, sondern nimmt sogar die Antwort auf Nietzsche vorweg. — Zu überlegen wäre auch Nestroys Auffassung der Ehe. (Das Biographische wirkt hier oft störend.) Nestroys Verhältnis zur Ehe bildet einen Bestandteil von Nestroys kompliziertem (und durchaus positivem) Verhältnis zur Wirklichkeit, das ja auch bisher nicht genügend erforscht wurde. — Auch die Zensurdialektik (hier ist das Dialektische angebracht) wird immer noch mit zweidimensionaler Naivität verflacht. Nicht nur die Tatsache, daß die Zensur (irgendwie) zum Schaffensprozeß gehört, sondern auch, daß die Zensur sich seit dem 19. Jahrhundert gleichlaufend mit dem sich ideologisch und machtpolitisch entfaltenden Totalitarismus in immer „komplexere“ Formen entwickelt, wäre in Betracht zu ziehen. — Nestroys Theaterphilosophie und seine Auffassung des Schicksals wurden bisher wenig komparatistisch analysiert. — Zu den interessantesten aktuellen Themen gehörte das Verhältnis von Theater und Revolution, zu dem Nestroy, der Dichter und auch der Schauspieler, Vieles zu sagen hätte. — Dies und viele andere Fragen treten zwischen den Zeilen und am Rande des Buches von Kurt Kahl hervor, das gerade deshalb den Nestroy-Forscher unbefriedigt läßt — jedoch im positiven und lobenswerten Sinne.

JOHANN NESTROY oder Der wienerische Shakespeare. Von Kurt Kahl in der Reihe „Glanz und Elend der Meister“. 340 Seiten, 16 Bildseiten, DM 26.—, S 182.—.

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