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Versuchsgelände

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Ungarn diskutiert schon seit längerem einen möglichen sowjetischen Truppenabzug von seinem Territorium. Michail Gorbatschows Abrüstungsvorschlag hat die Magyaren hellhörig gemacht. Immerhin könnten die 62.000 Sowjetsoldaten innerhalb von zwei Jahren um ein Viertel reduziert werden, wenn Gorbatschow tatsächlich insgesamt 50.000 Mann aus der DDR, der CS SR und aus Ungarn abzieht. Die Ungarn sind diesbezüglich zu Experimenten bereit, wie dies auch ZK-Sekretär Mdtyds Szürös (55), Vorsitzender des Auswärtigen, Ausschusses im ungarischen Parlament, gegenüber der FURCHE betonte.

FURCHE: Herr Szürös, als eine auch international anerkannte Persönlichkeit haben Sie vor kurzem einen bemerkenswerten Abrüstungsvorschlag gemacht.

MATYAS SZÜRÖS: Wir gehen davon aus, daß ein nuklearer Zusammenstoß die Existenz der ganzen Menschheit gefährden würde. Daraus folgt, daß alles zu einer weitreichenden Abrüstung unternommen werden muß. Auch in der sozialistischen Welt haben die Strategen viel zu lange an einen möglichen Sieg in einem Atomkrieg geglaubt.

Ungarn als eine nicht-nukleare Macht ist freilich auch aufgrund seiner speziellen Lage an der Abrüstung konventioneller Waffen interessiert. Deshalb haben wir uns in unserem Bündnissystem bereit erklärt, die Rolle des Koordinators zu übernehmen. Damit unterstützen wir die Vorstellungen der Sowjetunion, die von einem Drei- bis Vier-Stufen-Plan ausgeht.

Danach sollten zuerst einmal Daten ausgetauscht, dann Asymmetrien aufgedeckt und beseitigt werden. Der nächste Schritt wäre die Truppenreduzierung um 500.000 bis 550.000 Mann. Schließlich müßte die Angriffsunfähigkeit erreicht werden.

Wir streben danach, daß in Ungarn bereits in der ersten Phase konkrete Schritte unternommen werden. Sie würden sowohl unsere nationale Wehrkraft als auch die hier stationierten sowjetischen Truppen berühren. Ungarns Territorium sollte auch als eine Art Versuchsgelände gelten.

Im Rahmen der internationalen Abrüstungskontrolle könnte hier beobachtet werden, wie all dies in der Praxis vor sich geht. Wir befürworten einseitige Schritte, soweit sie in den gesamteuropäischen Sicherheitsprozeß integriert werden können.

FURCHE: Das heißt Verringerung der sowjetischen Truppen in Ungarn, wie dies Michail Gorbatschow mit seinem Vorschlag vor der UNO angekündigt hat, beziehungsweise vollständigen Abzug. Nun gibt es aber noch immer einige in diesem Lande, die in der Anwesenheit dieser Kontingente eine Garantie für das sozialistische System erblicken. Fühlen sich die Reformer stark genug, um einen sozialistischen Rechtsstaat zu verwirklichen, für dessen Sicherung keine fremden Truppen notwendig sind?

SZÜRÖS: Wir sind davon fest überzeugt. Die Stationierung der sowjetischen Truppen ist nicht auf die innenpolitische Lage zurückzuführen. Es gab Zeiten, wo dies der Fall war. Doch die sind längst vorbei.

Die Sowjettruppen halten sich aufgrund internationaler Verträge auf unserem Territorium auf. Das hängt noch mit der gesamteuropäischen Lage zusammen.

Nun halten wir es aber für wünschenswert — und das hat auch die sowjetische Führung zum Ausdruck gebracht —, daß die fremden Truppen aus Europa bis zur Jahrtausendwende abgezogen werden. Es wird keine leichte Aufgabe sein und wir werden in dieser Hinsicht zusammenhalten.

Aber zur Schaffung einer demokratischen sozialistischen Gesellschaftsordnung, eines wirklichen Rechtsstaates, bedarf es in Ungarn keiner fremden Truppen.

FURCHE: Der Stand der Demokratisierung in Ungarn berechtigt die Führung, gegen die Verletzung der Menschenrechte in Rumänien zu protestieren, dessen Conducator Nicolae Ceausescu erst vor kurzem eine hohe staatliche Auszeichnung aus der DDR erhalten hat. Wo sind heute Ungarns Verbündete in Sachen Menschenrechte?

SZURÖS: Wir setzen uns konsequent für die Abhaltung einer Menschenrechtskonferenz in Moskau ein. Diese würde vielen Menschen bewußtmachen, was in manchen Ländern vor sieht geht, wie individuelle 'und kollektive Rechte, wie die Rechte der Nationalitäten behandelt werden. Wir arbeiten darauf hin, die in Westeuropa und zum Teil auch in Amerika gegen Moskau als Konferenzort bestehenden Vorbehalte abzubauen.

Wo sind nun unsere Verbündeten? Zweifelsohne breitet sich in der ungarischen Öffentlichkeit Unsicherheit aus, wenn die Menschen aus den Massenmedien erfahren, wieviel Sympathie in Österreich, in der Bundesrepublik Deutschland, in Finnland und in einer Reihe anderer westeuropäischer Staaten den Solidaritätsaktionen Ungarns gegenüber den in Siebenbürgen lebenden Magyaren entgegenschlägt. Etwas Ähnliches haben wir aus sozialistischen Ländern eben nicht erfahren, obwohl es auch in dieser Hinsicht einen Wandel gibt.

In der UdSSR breitet sich Sympathie für unsere Anliegen aus, das ist eine neue historische Situation. Auch in Polen wird sie uns gegenüber offen bekundet, sogar in einigen Blättern in der CSSR. Wir wissen, daß in der Öffentlichkeit mancher Staaten, von denen wir offiziell keine Sympathiebekundungen erfahren, uns gegenüber Wohlwollen herrscht. Manche Regierungen können sich eben Stellungnahmen leisten, ohne sich den Vorwurf einer Einmischung zuzuziehen, manche wiederum nicht.

Wir Politiker sind aber bestrebt, die Einstellung unserer

„Wir setzen uns für eine Menschenrechtskonferenz in Moskau ein“

Verbündeten zu dieser Frage mit Verständnis zu behandeln. Zugleich schätzen wir aber sehr die Schritte, die die österreichische Regierung unternommen hat. Ähnlich verhält es sich mit der Bundesrepublik und mit dem US-Senat, die Rumänien-Resolutionen verabschiedet haben. Auch Finnland und Jugoslawien haben es — von ihrer eigenen Situation ausgehend — als ihre moralische Pflicht angesehen, ihre Stimme im Interesse der in Rumänien lebenden Ungarn zu erheben.

Mit Mätyäs Szürös sprach Gabor Kiszely.

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