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„…versuchten es in Honkong“

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Zu Rosch ha-Schana, zum Neujahrsfest („… die Bücher des Lebens und die Bücher des Todes sind geöffnet vor Seinem Angesicht …“), im Früherbst des Jahres 1975, erklangen in Israel nicht nur die Widderhörner, sondern auch — und durchdringender, aufrüttelnder als diese — die Sirenen. Unter der Überzahl und Übermacht der aus allen Himmelsrichtungen einfliegenden Kampf- und Bombenflugzeuge brach innerhalb weniger Tage die israelische Luftherrschaft zusammen. In den USA bewirkte der — angesichts eines lückenlosen islamischen Ölembargos — von der ohnehin krisengeschüttelten Wirtschaft auf die Regierung ausgeübte Druck, daß letztere ihre Waffenlieferungen an Israel, für welche außerdem kein europäisches Land Zwischenlandeplätze zur Verfügung stellte, abbrachen. Nach drei Wochen eines . verzweifelten Widerstandes war Israel arabisch besetztes Land.

Die jüdische Geschichte fand nach einer Unterbrechung von fast drei Jahrzehnten wieder zu ihrer „Normalitąt“ zurück. Genauer: durch sein abruptes und gewaltsames Ende wurde der Staat Israel erst so recht eigentlich ein Teil, ein Phänomen der jüdischen Geschichte; jetzt erst wurde der Judenstaat, der weithin als Kern einer dauerhaften, ja endgültigen — im unblutigen Sinne endgültigen — Lösung der jüdischen Frage gegolten hatte, als typische Erscheinung der mehrtausendjährigen jüdischen Geschichte einsehbar; jetzt erst ließ er sich einordnen, gab er sich als eine der trügerischen Hoffnungsepochen zu erkennen, wie sie Juden mehrfach erlebt hatten: im großen spanischen Traum, der 1492 mit Mord, Zwangstaufe und Vertreibung geendet hatte, in der deutsch-jüdischen Symbiose, die zu millionenfachem Mord führte.

Wieder jüdische Geschichte. Die Besetzung Israels im Herbst des Jahres 1975 vollzog sich als ein vielhundertfaches Odessa und Elisabethgrad von 1881, als ein ungeheures Kischinew-1903: „Es wurde geraubt, geplündert und gemordet… Die Frauen wurden vergewaltigt, Kinder aus den Fenstern mehrere Stockwerke hoch auf die Straße geschleudert. In den Häusern ist alles vernichtet und zerrissen … Man plündert und mordet unaufhörlich.“

Unter dem teils verlegenen, teils interesselosen (was hatte schließlich auch die Regierung der soeben unabhängig gewordenen Komoren mit der „jüdischen Frage“ zu schaffen? Nein, nein, das war und blieb schon eine im weiteren Sinne europäische Frage, unsere Frage!) Schweigen der Welt vollzog sich wieder jüdische Leidensgeschichte: „Unser altes großes Unglück/ Hat die Hand auf uns gelegt“ (Nach einem jiddischen Gedicht aus Anlaß der russischen Pogrome von 1905). Nur das tapfere kleine Holland brach aus der Reihe der schweigenden Zu- und Wegseher aus und protestierte. (Holland wurde übrigens wegen dieses Protestes zwei Monate später vor der unter libyschem Vorsitz tagenden UN-

Vollversammlung der Einmischung in die innere Angelegenheit des palästinensischen Staates angeklagt und mit großer Mehrheit verurteilt. — Österreich enthielt sich der Stimme.)

Die J erusalemer Synagogen wurden in Ställe und Waffenmagazine umgewandelt und die UNESCO sprach dem neuen Staat für seine Bemühungen, den früheren Zustand der Heiligen Stätten wiederherzustellen, mit großer Mehrheit ihren Dank aus. (Österreich enthielt sich der Stimme.)

Am 1. Dezember 1975 zog Arafat umjubelt in Jerusalem ein und proklamierte den palästinensischen Staat. Kaum im Amt, begann die neue Regierung mit einer systematischen Erfassung der jüdischen Vermögen und nahm deren stufenweise Überführung in arabische Hände („Arabisierung“) in Angriff. Großrazzien auf führende „Zionisten" und Verhaftungswellen waren an der Tagesordnung.

Die sogenannten „Jerusalemer Gesetze“ vom 20. Dezember schufen — durch genaue und mit schärfsten Strafandrohungen für den Nichteinhaltungsfall verse- sebene Kennzeichnungsvorschriften — in Palästina vier Arten von Juden: 1. Vor der Balfour-Dekla- ration (2. November 1917) in Palästina ansässige Juden und deren Nachkommen (weiße Armschleifen), 2. zwischen 1917 und 1948 eingewanderte Juden und deren Nachkommen (blaue Armschleifen), 3. zwischen 1948 und

1967 eingewanderte Juden und deren Nachkommen (rote Arm- schleifen) und 4. nach 1967 eingewanderte Juden (gelbe Armschleifen). Auf allen Armbinden mußte deutlich lesbar das Einwanderungsjahr (bzw. jenes der unmittelbaren Vorfahren) aufgedruckt sein. Für Nachkommen aus Mischehen der Gruppen 2 bis 4 mit der Gruppe 1 wurden Sonderregelungen angekündigt.

Der Gruppe vier wurde eine Frist von einem Monat gesetzt, Palästina zu verlassen, der Gruppe 3 eine Frist von einem halben Jahr und der Gruppe 2 eine solche von zwei Jahren. Nur Juden der ersten Kategorie durften im neuen palästinensischen Staat bleiben.

Wieder jüdische Geschichte. Es begann der Sturm auf die Botschaften, das Betteln um ein Visum, das Schreiben von Bittbriefen an „mehr oder weniger Bekannte im Ausland, die Suche nach einem Fluchtland. „Aber wohin? … In welches Land sollten wir fliehen? Wer nahm uns auf?… Die italienische Botschaft … Als ich an einem Junitag 1938 ihr Vestibül betrat, um mein Gesuch einzureichen, fand ich es bis zum Tor vollgepfropft mit Menschen … Auch die breite Treppe… war besetzt mit Bittstellern, die Formulare in den Händen hielten… Wie kam ich weg von hier, wenn es so aussah? … ich ging zum … norwegischen Konsulat… Der neue Mißerfolg schmerzte… An welches Land sollte ich mich jetzt wenden? … Sperrten sich vielleicht die Nationen heimlich — aus Humanitätsgründen durfte so etwas ja nicht öffentlich geschehen —, und wir drängten uns und stießen uns in unzähligen Vestibülen und auf Treppen… und doch — vollkommen vergeblich?“ (Robert Braun — für Tausende).

1975/76 „sperrten“ sich die Nationen noch entschiedener. Die westlichen Industrieländer steckten in einer Wirtschaftskrise und hatten Hunderttausende von Arbeitslosen zu versorgen. „Und da sollen wir auch noch diese Horde starrköpfiger Juden aufnehmen, die eigentlich daran schuld ist, daß es uns so schlecht geht? Denn mit dem öl hat es ja schließlich begonnen …!“ Die Länder des Ostblocks, auch nach dem Ende des Judenstaates „anti-zionistisch“, hielten die Grenzen verschlossen. Ein paar alte Juden mit einschlägigen österreichischen oder deutschen Erfahrungen versuchten es mit Hongkong.

Ende Jänner 1976 konnte man beobachten, wie kleine Gruppen von Kategorie-4-Juden, die kein Land aufgenommen hatte, alte Jüdinnen und Juden, die sich von der wenige Monate zurückliegenden Flucht aus der Sowjetunion noch nicht erholt hatten, durch Städte und Orte getrieben und unter dem Gelächter der Soldaten und der palästinensischen Zuschauer dazu eingesetzt wurden, die überall noch sichtbaren Embleme des alten Staates zu beseitigen. Und so wuschen und schabten und kratzten und meißelten und schraubten sie an blauen Davidsternen, auf die sie vor kurzem noch von Moskau, Kiew oder Kischinew als auf ihre letzte große Hoffnung hinübergeblickt hatten.

Im Sommer 1976 wunderten die Kategorie-3-Juden, die in keinem Land Aufnahme gefunden hatten, in neugeschaffene Sammellager …

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