6972341-1985_35_05.jpg
Digital In Arbeit

Versunken in Starrheit

19451960198020002020

Mit einer gewissen Routine haben das Prager Regime, das kleine Häuflein Dissidenten und auch die Bevölkerung die „kritischen” Augusttage gemeistert: die Erinnerung an die Warschauer-Pakt-Invasion 1968. Doch alle drei Gruppen wissen um die tiefe Krise des Landes, aus der es keinen Ausweg zu geben scheint.

19451960198020002020

Mit einer gewissen Routine haben das Prager Regime, das kleine Häuflein Dissidenten und auch die Bevölkerung die „kritischen” Augusttage gemeistert: die Erinnerung an die Warschauer-Pakt-Invasion 1968. Doch alle drei Gruppen wissen um die tiefe Krise des Landes, aus der es keinen Ausweg zu geben scheint.

Werbung
Werbung
Werbung

„Das Verhalten ist rein konsumorientiert. Geld ist zum Hauptzweck des Lebens geworden. Große Teile der Bevölkerung wollen nur dem Augenblick leben, was unvermeidlich zu Alkohol-, Tabak- und Drogenmißbrauch führt.”

Das ist etwa nicht die Klage über eine westliche Konsumgesellschaft, sondern die Kritik der ideologischen CSSR-Wochen-zeitschrift „Tribuna” an den Zuständen im Lande an der Moldau.

In einem Kommentar von Radio Prag hieß es kürzlich, daß „Verschwendung und Verantwortungslosigkeit, Verletzung der Arbeitsdisziplin, Parasitismus und Gewinnstreben sowie die Haltung, möglichst viel von der Gesellschaft herauszupressen, ohne etwas einzubringen”, weit um sich gegriffen habe. Und die Zeitschrift „Nova Mysl” rundete das Bild noch ab — mit dem Hinweis auf .Passivität, Indifferenz und das Fehlen jeglicher Begeisterung”.

Es ist geradezu verblüffend, wie sich diese in der zensierten Regimepresse immerhin doch abgedruckten Befunde mit der Analyse des Dokumentes der Bürgerrechtsbewegung „Charta 77” dek-ken, das zum Jahrestag der Invasion, veröffentlicht wurde. Dort heißt es, daß die 17 Jahre dauernde „Normalisierung” in der CSSR die gesellschaftlichen Strukturen zerstört, die schöpferische Entwicklung verhindert und einen fortgesetzten Verfall der öffentlichen Moral mit sich gebracht habe.

So beklagt das „Charta-77”-Do-kument als schwerstwiegende Folge der Zeit nach 1968 die Stagnation in der Wirtschaft, das markante Zurückfallen auf einen niedrigen technischen und technologischen Standard.

Genau das wird aber auch in wachsendem Maße von den offiziellen CSSR-Massenmedien bekrittelt.

In der Fachzeitschrift „Politik-ka Ekonomie” hat der CSSR-Wirtschaftswissenschaftler Valtr Komarek in einer Artikelserie die gegenwärtige ökonomische Lage äußerst düster dargestellt. Das extensive und expansive Wirtschaftsmodell sei in der Nachr kriegsperiode in der CSSR berechtigt gewesen, aber es könne den jetzt notwendigen Erfordernissen keineswegs genügen. Derzeit aber könne man nichts erkennen, was zu einer „intensiven” (d.h. unter Einsatz moderner Technologie produzierende) Wirtschaft führen werde. Dies wäre nur durch eine „fundamentale Änderung” des gesamten ökonomischen Systems denkbar, so Komarek.

Die aber zeichnet sich in der CSSR nun wirklich nicht ab. Und völlig zu Recht heißt es in dem Charta-77-Dokument zum 21. August daher: „Die Unbeweglich-keit, die wir seit 17 Jahren erleben, ist in einer sich rasch ändernden

Welt von zu langer Dauer. Das Land kann sich das nicht länger leisten. Die Reformbemühungen in Nachbarländern mit ähnlichem Gesellschaftssystem beweisen, daß eine andere Politik möglich ist.”

Die Charta-77-Leute ziehen Schlüsse, die Offizielle und andere auch haben, sie aber nicht äußern dürfen oder wollen. Und so bleibt alles beim alten.

Und Staats- und Parteichef Gustav Husak, schon längst fleischgewordenes Symbol für die absolute Immobilität der Prager Führung, darf daher postulieren: „Wir werden keineswegs irgendeinen Weg der marktorientierten Konzepte in der Wirtschaft einschlagen, der das System des sozialistischen kollektiven Besitzes und die führende Rolle der Partei in der Ökonomie antastet.”

Es rührt sich nichts vom Fleck in unserem Nachbarland CSSR -und unzweifelhaft geschieht mehr in der UdSSR.

Diese tödliche Unbeweglich-keit, dieses Aufgeben der Hoffnung auf irgendwelche Veränderung—das ist es, was in der CSSR einen so tiefen Keil zwischen Herrschende und Beherrschte getrieben hat.

Der Schriftsteller Vaclav Havel hat dies eindringlich analysiert:

„Der Bürger weiß ganz genau, daß die da oben tun können, was sie wollen; sie können ihm den Paß wegnehmen; sie können ihn aus der Arbeit feuern; ihm anschaffen, das Haus zu verlassen, Unterschriften gegen Pershing-Raketen zu sammeln; ihm verbieten, die Universität zu besuchen; seinen Führerschein einziehen; seine Telefongespräche abhören und seine Briefe öffnen; ihn einsperren, nur weil er ein Rockkonzert besucht; jederzeit für alles die Preise zu erhöhen; vorschreiben, was er lesen darf, wofür er zu demonstrieren hat, was er unterzeichnen muß und wie groß das Vorzimmer in seiner Wohnung zu sein hat; und wen er die Erlaubnis hat zu treffen — und wen nicht.”

Und das ist die eigentliche Tragödie dieser Politik der Normalisierung nach 1968: Daß der CSSR-Bürger in die innere Emigration gegangen ist, daß er willenloses Objekt wurde, hinorientiert auf die mageren Konsumfreuden, ansonsten aber passiv, resigniert, motivationslos, anfällig für Korruption.

Damit aber ist auf die Dauer kein Staat zu machen; damit ist die von der neuen Führung in Moskau stürmisch verlangte „Intensivierung” und Modernisierung auch der CSSR-Wirtschaft nicht durchzuführen.

Hier reift in Stille ein Konflikt heran, der zumindest mittelfristig in Prag zu einem Umbruch in der KP-Hierarchie — und vielleicht damit auch in der unglückseligen Politik der „Normalisierung” — führen muß. So sehr Moskau auch Stabilität in seinem westlichen Glacis wünschen mag, angesichts der Herausforderungen der neuen Zeit darf sie nicht in reine Friedhofsstille und Starre degenerieren. Wie in der CSSR.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung