6844041-1976_08_12.jpg
Digital In Arbeit

Verteidigung eines Traumes

19451960198020002020

Wir fahren auf der guten Straße vom Norden auf Qberwart zu und am Hügel von Bernstein vorbei, fahren den Abhang wieder empor und sehen nun zur rechten Hand, etwas tiefer gelegen, eine sandsteinfarbene Kirche und dann auch, noch tiefer, die hellen Häuser eines sehr kleinen Dorfes; die Kirche steht offenbar auf einer Terrasse, in der Höhe der Dächer oder noch höher; sie scheint, auf ihrer Anhöhe stehend, eine architektonische Antwort zu sein auf die Burg von Bernstein — der Zusammenhang ist unverkennbar, ist betont nicht nur durch den Rhythmus, der hier die Landschaft stark gliedert, sondern auch durch die Ähnlichkeit der Funktion, denn nicht nur die Burg ist ein Bollwerk, auch die kleine sandsteinfarbene Kirche ist eine Festung: eine Festung nicht nur des Glaubens, sondern auch der wirklichen Verteidigung gegen Heere und Horden. — Die Ortschaft dort unten heißt Mariasdorf. Ihre Pfarrkirche zu Maria Himmelfahrt ist berühmt und in manchen Kreisen von Kunsthistorikern sogar berüchtigt.

19451960198020002020

Wir fahren auf der guten Straße vom Norden auf Qberwart zu und am Hügel von Bernstein vorbei, fahren den Abhang wieder empor und sehen nun zur rechten Hand, etwas tiefer gelegen, eine sandsteinfarbene Kirche und dann auch, noch tiefer, die hellen Häuser eines sehr kleinen Dorfes; die Kirche steht offenbar auf einer Terrasse, in der Höhe der Dächer oder noch höher; sie scheint, auf ihrer Anhöhe stehend, eine architektonische Antwort zu sein auf die Burg von Bernstein — der Zusammenhang ist unverkennbar, ist betont nicht nur durch den Rhythmus, der hier die Landschaft stark gliedert, sondern auch durch die Ähnlichkeit der Funktion, denn nicht nur die Burg ist ein Bollwerk, auch die kleine sandsteinfarbene Kirche ist eine Festung: eine Festung nicht nur des Glaubens, sondern auch der wirklichen Verteidigung gegen Heere und Horden. — Die Ortschaft dort unten heißt Mariasdorf. Ihre Pfarrkirche zu Maria Himmelfahrt ist berühmt und in manchen Kreisen von Kunsthistorikern sogar berüchtigt.

Werbung
Werbung
Werbung

Berühmt ist die Kirche, weil sie zu den wichtigsten gotischen Bauwerken des Burgenlandes gehört, zu den wichtigsten und den schönsten, erwachsen dem Reichtum des Spätmittelalters mit seiner blühenden feudalen Ordnung, mit seinem aufgeklärten Zunftwesen, mit der fortschrittlichen Arbeitsteilung seiner Manufakturen; ein Zeitalter des großen Aufbruchs ist das gewesen, man könnte es mit der heute modischen Diktion auch eine progressive Epoche nennen; schlagender Beweis dafür ist die Renaissance, die in dieser Zeit wurzelt und durch den Geist der französischen Aufklärung bis heute wirkt. In dieser Atmosphäre der relativen Freiheit und Prosperität ist also die Pfarrkirche der Ortschaft Mariasdorf errichtet worden, denn die gerade erst so richtig ausgebauten Eisenbergwerke der nächsten Umgebung florierten und die Herrschaft verfügte über genügend Mittel, um den Geist der Gläubigkeit nicht nur zu pflegen, sondern für den Himmel auch eine prachtvolle irdische Repräsentation zu erschaffen.

So entstand die Kirche etwa um das Jahr 1388. Sie wurde dreihundert Jahre später barockisiert, doch trug sie ihr barockes Antlitz nur zwischen

1666 und 1884, also ungefähr zwei Jahrhunderte hindurch. Nun kam es zur Re-Gotisierung. Und dieser Versuch einer Wiederherstellung ursprünglicher Formen ist es nun, der jene gewissen Kunsthistoriker verstimmt, verdrießt, ja verärgert. Sie sprechen sogar von einer glatten Verfälschung.

Mir aber scheint es, sie selbst sind es, die dem Wesen der Baukunst verständnislos gegenüberstehen, indem sie das Prinzip des Purismus hochhalten und die abstrakte Idee einer niemals wirklich existierenden, bloß in der Phantasie konstruierten Reinheit verteidigen gegenüber dem Recht des Menschen auf Träume.

Denn jeder Versuch einer genauen Rekonstruktion muß zwangsläufig Resultate zeitigen, die vom Original abweichen. Erstens: alle Dinge sind nur mit sich selbst identisch und also auch die an einem Gegenstand vorgenommenen Wiederholungen ergeben bloß Variationen auf das Vor-

handene Thema. Zweitens: Wir kennen zwar die ursprünglichen architektonischen Formen des ursprünglichen Innenraumes, nicht aber den Schmuck, der die nackten Mauern bedeckte: die schweren farbigen Stoffe, die da kunstvoll geordnet zu Boden stürzten, die Kleinode aus Gold und Silber, die Weihegeschenke und bunt bemalten Statuen — kurzum, die wirkliche, gleichsam theatralische Wirkung jener Raumgestaltung bleibt uns verschlossen. Und drittens: Wie will man die psychische Wirkung jener Räume rekonstruieren — und zwar streng! — in einer Zeit, in der andere Menschen in einer anderen Art eine andere Form von Frömmigkeit empfinden?! Soll nun im Zeichen des Purismus bloß die ursprüngliche Architektur wiederhergestellt werden, oder die ursprüngliche geistige Ausstrahlung des Bauwerkes? Soll die Materie rekonstruiert werden oder der irrationelle Effekt? .

Zurück zum Jahre 1884. Damals wurde die heutige Form der Kirche entwickelt unter Anleitung des Architekten Emmerich Steindl, der das Parlamentsgebäude in Budapest erbaute. Steindl ist ein Schüler und Mitarbeiter von Friedrich Schmidt gewesen, dessen neue Gotik am Bei-

spiel des Wiener Rathauses zu studieren ist, und es bestehen wahrhaftig geistige Verbindungen zwischen der Architektur des Rathauses in Wien, des Parlamentes in Budapest und der Pfarrkirche in Mariasdorf.

Steindl begnügte sich nicht damit, die barocken Beiwerke zu entfernen, nein, er verwirklichte bei diesem Umbau seine eigenen Träume von der Gotik, änderte die Höhe des Daches, ließ ein kleines Türmchen, einen sogenannten Dachreiter errichten, er änderte das Hauptportal, indem er es mit einem Erker und mit einer Madonnenfigur ausschmückte, er baute Giebelchen, ließ die Fugen des Mauerwerkes weiß fassen, ließ den Innenraum dunkel bemalen und reich ausstatten, brachte einen Hauptaltar aus Fayence in die Kirche und sorgte zusätzlich durch verschiedene gotisch anmutende Verzierungen für das Entstehen der von ihm gewünschten Wirkung. Dadurch

nun wurde der ursprüngliche gotische Bau gleichsam dramatisiert, in Bewegung gesetzt, zu einem romantischen Erlebnis gemacht: die Kirche sollte nicht nur als Gotteshaus dienen, sondern auch an die Zeit ihrer Entstehung erinnern, und zwar aus der Sicht des späten 19. Jahrhunderts betrachtet. Steindl, Anhänger eines streng durchdachten Historismus, entsprach seiner Zeit und widersprach ihr zugleich, ja, man könnte, etwas überspitzt, sagen, er entsprach ihr, indem er ihr widersprach. Denn die Kunst und auch die wahre Baukunst entspricht dem Zustand der Gesellschaft nur, indem sie das Dahinströmen, den steten Wechsel, das fortwährende Absterben dieses Zustandes widerspiegelt, also nicht nur den herrschenden Bedürfnissen entspricht, sondern diese in Frage stellt, selbst eine Antithese bildet und sie somit bewältigt und überwindet. Steindl arbeitete in Mariasdorf gerade in diesem Geiste. Der fetten massiven, handfest berechnenden Gründerzeit setzte er den Traum von einer anderen Welt entgegen, in der das Zweckmäßigkeitsprinzip aufgehoben ist, in der die Laune herrscht und die Leidenschaft, das Schwärmen und das Glauben — ja, Steindl versuchte das Lebensgefühl des späten Mittelalters zu rekonstruieren, und zwar mit den Methoden seiner Zeit, das heißt: in einer Art, die auf den Menschen des späten 19. Jahrhunderts wirken konnte.

Es war die Zeit, in der das Hoftheater von Meiningen im ganzen deutschen Sprachraum erfolgreich gastierte: eine Schauspieltruppe, die alle historischen Stücke mit echten Wappen spielte und in echten Uniformen, auf einer Bühne, die mit echtem Mobiliar ausgestattet war — und am liebsten hätte man es gehabt, wenn auch noch die Burgmauern des Bühnenbildes aus echten Steinquadern bestanden hätten. Darüber mag man heute lächeln, doch haben wir kein Recht, die Menschen anderer Epochen nach den — ohne-

hin recht fragwürdigen — Maßen unserer eigenen Epoche zu beurteilen. Die Träume jener Zeit waren massiv. Man gründete nicht nur Fabriken und Banken, Eisentoahnge-sellschaften und Kolonien, man gründete auch eine eigene Vergangenheit, eine Weltgeschichte aus Stein und Eisen.

Zugleich aber stellten Künstler und Architekten, und unter ihnen auch jener Emmerich Steindl, das vorherrschende Prinzip der Wirtschaftlichkeit in Frage. (Und solche Kühnheit kann den heutigen Architekten nicht vorgeworfen werden.) In einer Epoche, die nicht weniger rechnerisch war als die unsere, forderten sie Geld für die Stilisierung; sie waren fürwahr Funktionalisten, aber sie reduzierten den Menschen nicht auf die Funktion seiner materiellen Bedürfnisse, sondern forderten Raum auch für die Funktionen des Unterbewußtseins und der Phantasie, der Sehnsucht und der Freude

— und so entstanden gerade in jener Zeit etwa in Wien jene Profanbauten, die ihre Funktionen heute noch materiell wie geistig erfüllen, die Bauten der Ringstraße: Rathaus, Parlament, Burgtheater, Museen. Auch in Mariasdorf wäre es einfacher und billiger gewesen, die Kirche einfach nur zu renovieren

oder sie bloß von den Stilelementen des Barocks zu befreien, man tat jedoch mehr, und in diesem zusätzlichen Element der Freiheit liegt das Beispielhafte: man unterordnete die Aufgabe dem Traum, man fegte das Prinzip der Wirtschaftlichkeit vom Tisch, um den Stil — ja, den eigenen Stil, irgendeinen Stil, aber wenigstens Stil! — triumphieren zu lassen, man deutete den Begriff der Funktion im Sinne einer menschlichen Totalität. Und man stellte dem Menschen, dem so sehr optimistischen, berechnenden, auf Technik und Finanzen konzentrierten Menschen der Gründerzeit die völlig anders gearteten, aber nicht weniger massiven Gegebenheiten einer anderen Epoche gegenüber: Gegebenheiten, die Metaphysik zu Stein werden ließen, Transzendenz zum inneren Gesetz der Architektur machten, Glauben in wahrstem Sinne des Wortes verwirklichten. Welchen Glauben? Den Glauben an eine Zukunft des Men-

sehen im Jenseits und im Diesseits, den Glauben an irgendeine Zukunft. Das heißt mit anderen Worten: diese Kunst war eine Kunst der optimistischen Utopie, die Kunst des vierdi-mensionalen Menschen, der — nach seinem eigenen Lebensgefühl — mitschwebt mit dem Strömen der Zeit. Diesen Menschen des wachen, selbstbewußten, planenden Traumes konnte die historisierende Architektur vertreten — im Gegensatz zu jenem anderen Menschentypus des 19. Jahrhunderts, dem die Phantasie amputiert worden ist.

Die Kirche von Mariasdorf steht in ihrer heutigen Form als Symbol da und zugleich als Kunstwerk, das unsere Gefühle bewegt. Und es ist uns gleichgültig, ob es den Dachreiter vor 1884 gegeben hat oder nicht, und ob manche Kunsthistoriker das Werk Steindls als Verfälschung eines weitgehend unbekannten Originalzustandes betrachten, denn wir wollen gar nicht wissen, wie die Kirche von Mariasdorf bei ihrer Fertigstellung im 14. Jahrhundert wohl ausgesehen hat; wir wollen die Kirche heute in der hügeligen Landschaft entdecken, wir wollen sie umgehen, wir wollen ihre Mauern betasten und wollen dann den Innenraum besichtigen und vielleicht auch beten, vielleicht nur nachdenken, und vielleicht bloß die Kraft einer Zeit analytisch untersuchen, die es sich noch durchaus leisten konnte, den Stil einer anderen Zeit zu erahnen und mit großer Konsequenz zu erneuern. Denn die Vergangenheit, richtig verstanden, bindet nicht, sondern hilft, Neues zu unternehmen und in diesem Sinn kann Steindls schönes Spiel mit der Gotik tatsächlich Impulse geben: zum Spiel mit gesellschaftlichen Modellen und menschlichen Existenzformen.

Die Kirche von Mariasdorf ist in ihrer gespielten Schlichtheit und schlichten Theatralik ein Zeugnis des großen Aufbruches. Sie steht im Schnittpunkt vieler Bestrebungen und macht Zusammenhänge fühlbar und sichtbar, die in die Weite reichen, räumlich und auch zeitlich. In die Weite der Zukunft auch — wohlgemerkt. In die Zukunft einer Gesellschaft, die dann vielleicht doch Kraft genug haben wird, über das Aller-notwendigste hinwegzugehen und auch in der Architektur wieder vorzustoßen: zum Spiel und zum Traum.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung