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Vertrauen hilft heilen

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Krankheit wird längst nicht mehr-wie in vergangenen Jahrhunderten -als Schicksal verstanden. Sie wird heute vielmehr als „Betriebsstörung“ empfunden, die . möglichst rasch durch ärztliche Maßnahmen behoben werden muß. Wer kann es sich noch leisten, länger auf die Erwerbsund Genußfähigkeit zu verzichten? Viele Menschen erwarten daher vom Sozialstaat den „totalen medizinischen Service“.

Wer dies ernsthaft fordert, verkennt die Möglichkeiten und Grenzen der Medizin unserer Tage. Die „therapeutische Überaktivität“ ist zu einem vordinglichen gesundheitspolitischen Problem geworden. Bei allen Fortschritten muß man sich heute mehr denn je fragen: Darf die Medizin, was sie kann?

Bei der Eröffnung der 85. Tagung der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin in Wiesbaden setzte sich Prof. Wolfang Gerok (Freiburg) auch mit dieser Frage auseinander, hinter der nicht in erster Linie die Kosten, sondern ethische Überlegungen stehen. Mit seinen Ausführungen über „Grenzbereiche der gegenwärtigen Medizin“ wollte der Präsident der Internisten seine Kollegen ermuntern, etwas mehr über ihr ärztliches Tun und Handeln nachzudenken.

Auftrag und Aufgabe des Arztes sind nur auf den ersten Blick klar definiert, wenn es heißt: Krankheiten sollen geheilt oder gemildert und die Gesundheit erhalten werden. Doch wie lassen sich heute Krankheit und Gesundheit voneinander abgrenzen?

Nur für den Begriff „Gesundheit“ hat die Weltgesundheitsorganisation (WHO) eine Definition parat: „Gesundheit ist der Zustand des vollkommenen biologischen, sozialen und psychischen Wohlbefindens.“ Diese Umschreibung besticht, zumal sie Gesundheit nicht als rein biologisches Phänomen betrachtet, sondern auch die sozialen und psychischen Aspekte einschließt. Trotzdem ist diese Definition für Gerok nicht realisierbar. Sie weckt unerfüllbare Erwartungen. Damit ist sie zugleich aber auch gefährlich, weil diese Erwartungen sofort in Anforderungen und Ansprüche umgesetzt werden. Wer könnte von sich behaupten, er befinde sich in einem Zustand des völligen Wohlbefindens? Oder ist der ältere Mitbürger bereits deshalb krank, weü seine berufliche Leistungsfähigkeit nachzulassen beginnt?

So hat auch die Begriffsbestimmung der WHO ein neues Bewußtsein von Gesundheit geweckt. Der Patient erwartet heute, daß jede Störung des Wohlbefindens vom Arzt behandelt werden kann und auch muß. Selbst Probleme der Lebensbewältigung werden zu Gesundheitsfragen. So hat nicht zuletzt der

Kranke mit seinem Anspruch auf Heüung ganz erheblich zur Kostenexplosion im Gesundheitswesen beigetragen. „Die Krise unseres Gesundheitswesens ist sicher ein finanzielles und ökonomisches Problem, sie ist aber zum nicht geringen Teil auf die falsche Grenzziehung zwischen Gesundheit und Krankheit zurückzuführen.“

Für Prof. Gerok ist daher eine Neubesinnung auf die Definition von Gesundheit notwendig. Gesundheit kann nicht als „völliges Wohlbefinden“ beschrieben werden, sondern „wohl eher als die Kraft, mit Störungen zu leben“. Diese Relativierung der Gesundheit fordert ein Umdenken von Ärzten, Patienten und von der Gesellschaft. „Sie verlangt vor allem die Einsicht, daß die Forderung nach uneingeschränkter Selbstverwirklichung nicht nur utopisch, sondern destruktiv ist.“

Ärztliches Handeln bedingt stets einen Eingriff in die Existenz eines anderen Menschen und muß daher mit einer besonderen Verantwortung verbunden sein. „Verantwortlich Handeln heißt aber“, betont Gerok -„sich den Fragen nach der Begründung, nach Folgen und nach dem Ziel des Tuns zu stellen.“

Die moderne Medizin hat die Antwort auf diese Fragen schwieriger und drängender werden lassen. Mehr denn je bedarf der Arzt heute der Normen und Werte, an denen er sein Handeln ausrichten kann und die ihm zugleich auch die Grenzen seines Wirkens markieren. So hat der Arzt nach den Gesetzen der Wissenschaft seine Entscheidungen zu begründen und die Folgen abzuwägen. Zwar werden und müssen im ärztlichen Alltag auch immer wieder rational nicht faßbare Entscheidungen getroffen oder modifiziert werden. Doch sollte der Arzt sich immer bewußt sein, wenn er im Einzelfall von den wissenschaftlichen Normen abweicht.

Die wissenschaftlich begründeten Normen und Richtlinien bedürfen der Erweiterung durch außerwissenschaftliche Werte: Wahrhaftigkeit, Schutz des Schwachen, Ehrfurcht vor dem Leben, Mitgefühl. Doch die Ambivalenz dieser Werte macht im Einzelfall juristische Verallgemeinerungen fragwürdig und Schlagworte gefährlich.

Letztlich wird die Medizin den außerwissenschaftlichen Normen und Werten nur entsprechen können, wenn der Kranke in seinem Arzt den Arzt des Vertrauens findet, meinte Prof. Gerok. Noch sei dieses Vertrauen außergewöhnlich hoch. Doch könne man nicht verkennen, daß es durch einige Massenmedien und - so möchte man hinzufügen - auch durch einige Ärzte systematisch untergraben wird.

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