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Vertrauen und Habe verloren

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Ubernächtigt, schmutzverkrustet, an der Leine Suchhunde mit verstaubtem Fell - so kommen mir die Männer des Tiroler Bergrettungsdienstes über Trümmerhalden entgegen. „Hier liegen noch Hunderte unter dem Schutt", sagt einer mit tonloser Stimme und starrt auf die leeren, mit Rauhreif bedeckten Särge, die auf der Piazza aufeinander-gestapelt warten - hier in Santangelo Dei Lombardi, in Lioni, Teora oder La-viano.

Die Namen dieser Orte kannte niemand in der Welt, bevor die Erde in Kantanien, in der Basilikata bebte und ganze Städtchen wie Kartenhäuser über ihren Bewohnern zusammenbrechen ließ.

Wie grausam ist hier Wirklichkeit, verglichen mit den oft zum eintönigen Schrecken verflachenden Fernsehbildern. Wenn sich Schneewolken und Nebelfelder in die herbstlich bunten Täler der Irpina-Berge senken und ein kalter Sonnenstrahl auf die Ruinenfelder der meist hochgelegenen Ortschaften fällt, dann hat es fast den Anschein, dies sei erst der erste Tag nach der Katastrophe.

Allen sitzt hier die verlorene Zeit im Nacken - den Katastrophenhelfern, die gleichsam überall und nirgends zuzupacken scheinen und viel Resignation mit noch mehr Eifer zudecken, aber auch den Überlebenden, die müde, hustend, oft schon krank, aus verschlammten, feuchten Zelten oder eiskalten Wohnwagen wanken und trotz amtlicher Ermahnung nicht von der Stelle weichen wollen.

Sollen sie sich in die requirierten Hotels an der Küste verfrachten lassen, während ihre toten oder - wer weiß? -noch lebenden Angehörigen unter zerbröselten Betondecken und Balkengewirr liegen? Sollen sie ihre Kuh, ihren Maulesel, ihre paar Hühner verhungern lassen, oder zusammen mit der armseligen Habe, die vielleicht noch nicht im Schutt vermodert ist, den Plünderern überlassen?

Sollten sie darauf vertrauen, daß der italienische Staat, dessen Versagen fast so viele Schlagzeilen machte, wie das Erdbeben selber, ihnen eines Tages neue Behausungen baut - vielleicht sogar mit soliden Mauern und genügend Zement, ohne daß die Spekulantenmafia beim Mörtel mitmischt?

Aber die meisten denken noch gar nicht soweit in die Zukunft; der Schock des Erlebten hat sie zunächst in jene uralte, zornbrodelnde Schicksalsergebenheit versinken lassen, die Italiens Süden alle Plagen seiner Geschichte leidvoll, aber auch leidlich überstehen ließ. Und dazu gehört auch das Auskosten des Schmerzes - jener dolorismo, über den sich nur eine gefühllose Soziologie mokieren kann.

Wo sich das Volk so wie in Italien von jeher nicht als Hauptdarsteller, sondern als Statist, ja Prügelknabe des Gemeinwesens behandelt fühlt, da ist auch ein Opfer von Naturgewalten kein vertrauensvoller Bürger mehr. Denn so ganz unvorhersehbar schlug das Erdbeben ja auch nicht zu:

Die Geräte eines geophysikalischen Instituts in Imperia hatten, wie man jetzt weiß, drei Tage lang vorher Warnzeichen registriert; das betroffene Gebiet ist auf allen Karten als höchste Risikozone verzeichnet. >

Aus früheren Katastrophen (in Beiice, in Friaul) hätte man Lehren ziehen können. Wie schon oft, so erwies sich auch jetzt Staatspräsident Pertini als nahezu einziger Politiker, der sofort die Hand am Puls der Leute und des Übels hatte. „Räumt auf! Schluß mit den Reden!" rief ihm die Menge zu, während er das Katastrophengebiet besuchte.

Doch als er vor das Fernsehen trat, die Versäumnisse kritisierte und dabei dem ganzen Land aus dem Herzen sprach, rümpften die meisten Parlamentarier, nicht nur die der Regierungskoalition, öffentlich oder im stillen die Nase.

Gewiß, Pertini selber war in den siebziger Jahren, in denen die Durchführungsverordnungen für das Zivilschutzgesetz immer wieder (und bis heute) hinausgezögert wurden, Parlamentspräsident. Doch warum sollte gerade er, der wenigstens jetzt Fraktur redet, jene Selbstkritik üben, zu der sich kein regierender Politiker herbeiließ?

Der schüchterne Versuch des Innenministers Rogmoni, „mit gutem Gewissen" zurückzutreten, scheiterte nicht nur am verständlichen Einwand von Ministerpräsident Forlani, daß gerade jetzt jeder auf seinem Posten bleiben muß; die Geste des Ministers stieß auch auf den Gummipanzer aus Selbstgerechtigkeit und gutwilliger Ignoranz, mit dem sich die Führungsschicht des Landes stets, nicht nur in Notstandsfällen, umgibt.

Doch in Rom wurde nicht etwa ein politisches Beben von den Erdstößen und ihren vermeidbaren Folgen ausgelöst; da hörte man vom christdemokratischen Innenminister allenfalls Seufzer wie diesen: „Wir sind doch nicht im Kriege." Und als der tüchtige Katastrophenkommissar Zamberletti frage: „Wo zum Teufel bleibt die Armee so lange?", da ließ der sozialistische Verteidigungsminister verlauten, Soldaten seien vor allem zum Kämpfen ausgebildet.

Inzwischen kämpfen sie allerdings, 30.000 Mann stark, mit Trümmern und Elend. Aber die politischen Seismographen schlugen in Rom erst dann kräftig aus, als die Kommunisten pietätlos auf den schwachen Verputz hauten. Etwas pharisäerhaft auch, denn sie hatten selbst - aus Mißtrauen gegen „paramilitärische Mobilisierung" - ein wirksames Zivilschutzgesetz abgelehnt.

Jetzt aber nutzten sie die allgemeine Stimmung zu einem paradoxen Vorstoß: Sie verlangen eine „radikale Änderung der politischen Führung des Landes", natürlich mit Kommunisten als Hauptgaranten für Sauberkeit, aber ohne Neuwahlen und sogar ohne Ablösung der jetzigen Regierung. Denn man dürfte angesichts der Erdbebenkatastrophe „kein Regierungsvakuum schaffen".

Berlinguer steuert ein neues Fernziel an: den historischen Kompromiß nicht mehr mit der Democrazia Cristiana, sondern mit „ehrlichen Personen" aller Parteien, unter Führung eines „Nicht-Christdemokraten". So heftig die Empörung dabei mitschwingt, so richtig ist auch die Einschätzung der Situation: es geht jetzt um den beschleunigten Vertrauensverlust der italienischen Demokratie, vor allem, wenn auch nicht nur, der „christlichen".

Wird diese, wie der katholische Ave-nire am 30. November Forderte, die moralischen Garantien, die Berlinguer anbietet, endlich selbst geben - „auch auf Kosten persönlicher Opfer"?

Die grellen Scheinwerfer, die im Erdbebengebiet nachts auf toten Städten und Hoffnungen ruhen, beleuchten gespensterhaft eine Wirklichkeit, die allzu viele Opfer schon gefordert hat.

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