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Viel Lärm um Nitsch

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Grillparzer: "Feiges Publikum erzeugt unverschämte Kunst". Ein Kommentar zu Hermann Nitsch.

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Grillparzer: "Feiges Publikum erzeugt unverschämte Kunst". Ein Kommentar zu Hermann Nitsch.

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Während in diesem Jahr in der Welt 15 Millionen Menschen verhungern, während die Funktionsfähigkeit der Demokratie durch Wirtschaftskrise und Terrorismus gefährdet erscheint, während die Kriegsgefahr wächst, hat einer unserer Mitbürger nichts Besseres zu tun, als nackte Menschen mit Ziegenblut und mit den Innereien frisch abgeschlachteter Lämmer zu bedecken.

Bliebe Hermann Nitsch mit seinem „sexualanarchistischen Doktorspiel“ daheim in seinem Schlößchen, wäre seine Aktion nicht wichtiger als Daumendrehen, wenn auch nur halb so lustig. Nitsch hat sich aber in die Öffentlichkeit begeben. Er ist durch seine Spektakel zwar kein Künstler, aber immerhin eine Figur des Kunstmarktes geworden. Er gehört zu den Schaustellern, die sich rühmen dürfen, ein maulaffendes Publikum und ein paar Ästheten beeindruckt zu haben.

Seit Menschengedenken werden auf den Jahrmärkten sogenannte Abnormitäten gezeigt: Riesen, Zwerge, Affenmenschen, Frauen ohne Unterleib, Schwertschlucker, Feuerschlucker, blutende Fakire. Manche von ihnen bieten ganze Spektakel, wie die Theatertruppen der Lilliputaner. Ob man die Vorführung solcher Abnormitäten für wünschenswert hält oder für abstoßend, ist eine Frage des Geschmacks. Ich finde sie vor allem traurig, und ich habe Mitleid mit den Kreaturen, die kein menschenwürdigeres Schicksal gefunden haben, als sich als Ware besonderer Art auf diese Weise zu vermarkten.

Ich hätte Mitleid auch mit Hermann Nitsch und mit den Mitwirkenden seiner Blutrevue. Aber Nitsch und die paar Ästheten seines Anhangs zeigen höheren, sozusagen intellektuellen Ehrgeiz. Sie wollen uns glauben machen, daß die Darbietung mit Kunst etwas zu tun habe, und zwar mit fortschrittlicher Kunst.

Mord, Sakrileg und Entwürdigung

Anspruchsvoll klingende Fachausdrücke wie „Abreaktionsspiel“ und „Existenzfest“ werden angeboten, und natürlich gibt es — wie auf jedem Jahrmarkt - Leute, die sich besser fühlen, wenn sie für ihr genüßliches Entsetzen eine ehrbare Erklärung finden können.

Nun hat Otto Breicha, der Rührige, in seiner Eigenschaft als Leiter des Kulturhauses der Stadt Graz eine „Dokumentation“ über das „Orgien-Mysterien-Theater“ von Nitsch dem Publikum zugänglich gemacht: eine Sammlung von Fotografien, die die üblichen Sensationen des Jahrmarkts zeigen: Mord, Sakrileg und Entwürdigung des Menschen als Spektakel.

Das Publikum war, wie immer, geteilter Meinung. Die beiden extremen Positionen waren bald erkennbar. Auf der einen Seite: verkappte Anhänger einer nationalsozialistischen Mystik, die im Namen ihrer Blut- und Boden-Romantik die Konkurrenz-Mystik von Nitsch bekämpfen und zugleich die Freiheit der Kunst in Frage stellen. Auf der anderen Seite: die an Freiheit des Marktes aus geschäftlichen Gründen interessierten Galeriebesitzer, die in pubertärer Genüßlichkeit schwelgenden Zuschauerscharen, die paar Ästheten und — nolens volens neben ihnen — die Vertreter einer ungeschmälerten künstlerischen Freiheit.

Die Politiker versuchten, mit einem Seitenblick auf das Wählervolk zu taktieren, ohne dabei die demokratischen Spielregeln zu verletzen. Sie demonstrierten ihr Mißfallen, sprachen aber nicht das Machtwort des Verbots aus. Aus dem Publikum kamen währenddessen sachfremde und emotionell aufgeladene Zwischenrufe. „Sittenverfall Zersetzung“ rief man auf der einen Seite. Und auf der anderen: „Ist Graz immer noch die Stadt der (nationalsozialistischen) Erhebung? Freiheit für die progressive Kunst!“

Die Schaustellungen von Hermann Nitsch haben allerdings mit progressiver Kunst nichts zu tun. Sie erweitern nicht das menschliche Bewußtsein und vermehren nicht die sinnvoll genützte Freiheit. Sie bringen uns keine Kunde über die bisher unbekannten Regionen der menschlichen Existenz. Sie verhelfen uns nicht zum Gefühl einer menschlichen Solidarität. Sie richten an uns, ganz im Gegenteil, die Aufforderung, unmenschlich zu handeln. Sie sind dazu geeignet, labile Menschen in ihrer bösen Triebhaftigkeit zu bestärken.

Was Nitsch darstellt, ist in Auschwitz, in allen Vernichtungslagern täglich praktiziert worden. Die Darbietungen des Hermann Nitsch sind, wenn wir sie als Krankheitssymptome betrachten, erbärmlich. Wenn wir sie ernst nehmen, kommen wir nicht umhin, ihre Substanz belanglos, ihre Wirkung aber barbarisch und reaktionär zu nennen. Das Lebenselement solcher Spektakel ist die Feigheit: die Bereitschaft vieler, angesichts einiger modebewußter Ästheten den Mund zu halten. Wie jede Diktatur ist auch die Diktatur der Snobs auf die Angst gegründet.

In diesem Jahr sterben mehr als 15 Millionen Menschen an Hunger. Wir haben fürwahr andere Sorgen als über die Auftritte der Feuer- und Schwertschlucker des Kunstmarktes zu diskutieren. Was Nitsch tut, ist unerheblich. Ein kleiner grauslicher Schnörkel am Leib einer übersatten Zeit. Es gibt in Indien Familien genug, die sich von den Opfertieren, die Nitsch zu seinen Blutspielen gebraucht, ernähren könnten.

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