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Viele Bücher - keine Moden

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Alle Jahre wieder werden in.Frankfurt am Main die literarischen Trends konstatiert — oder konstruiert. Aber: Festzustellen, was ohnehin jeder sieht, ist ja keine Kunst. Die wahre Herausforderung der Literaturpäpste, der Literatur ihr eigenes Wohin zu bescheinigen, findet daher in jenen Jahren statt, in denen allzu schwach ausgeprägte Trends der Verbesserung bedürfen wie saure Weine. Auf beiden Gebieten wurde schon Erstaunliches geboten. Heuer aber ist vielleicht noch der deutsche Wein zu retten — aber bestimmt kein Trend der deutschen Literatur.

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Alle Jahre wieder werden in.Frankfurt am Main die literarischen Trends konstatiert — oder konstruiert. Aber: Festzustellen, was ohnehin jeder sieht, ist ja keine Kunst. Die wahre Herausforderung der Literaturpäpste, der Literatur ihr eigenes Wohin zu bescheinigen, findet daher in jenen Jahren statt, in denen allzu schwach ausgeprägte Trends der Verbesserung bedürfen wie saure Weine. Auf beiden Gebieten wurde schon Erstaunliches geboten. Heuer aber ist vielleicht noch der deutsche Wein zu retten — aber bestimmt kein Trend der deutschen Literatur.

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Aus Mangel an Sternen mußten die Sterndeuter passen. Es gah zwar wie immer die Stars, allen voran Gurd Jürgens, der sich in einer Pressekonferenz plötzlich als Objekt journalistischer Sexualforschung sah, aber keinen neuen Grass, keinen Lenz (ein neuer Sommer zählt da nicht), keinen Boll, nicht einmal einen richtigen Kempowski. Was heuer aus den Köpfen floß, war zu dünn, um zu einem Trend aufgezuckert zu werden.

Dabei war es nach einer äußerst erholsamen Pause zurückgehender oder stagnierender Produktionszdf-fern schon wieder eine Buchmesse der Superlative: 4139 Verlage, davon 2669 Einzelaussteller, davon wiederum 1007 deutsche, 278.000 Bücher, davon 83.000 Neuerscheinungen, und auch schon wieder einmal mehr Besucher als je zuvor.

Die einen großen Teil dessen, was auf dieser Messe geschieht, weder erfahren noch erfahren wollen. In •Frankfurt werden ja nicht nur Bücher an Buchhändler verkauft, sondern vor allem Lizenzen von Verlag au Verlag. In Frankfurt treffen Jahr für Jahr amerikanische Verleger ihre italienischen Geschäftspartner, suchen die Abgesandten der DDR ihre neuen Bücher Westdeutschen, Franzosen, Engländern schmackhaft zu machen, halten Verleger aus Barcelona Ausschau nach Neuem, das sich für die Übersetzung ins Katalanische eignen könnte, verhandeln Iren mit Spaniern, Polen mit Brasilianern, werden internationale Kooperationen angebahnt, die beispielsweise, durch den gemeinsamen Druck der Bildteile, bestimmte Kunstbände zu erschwinglichem Preis überhaupt erst möglich machen.

Und soweit sie etwas Zeit erübrigen konnten (denn auch die Buchmesse wird von Jahr au Jahr hektischer), ein bißchen „Rahmenprogramm“ zu absolvieren, konnten die Teilnehmer aus 68 Ländern feststellen, daß Frankfurt die Drehscheibe des internationalen Buchgeschäftes keineswegs erst seit 1949, der ersten Buchmesse mit immerhin bereits 205 (noch ausschließlich deutschen) Aussteilem, ist. Die „Historische Kommission des Börsenvereines des deutschen Buchhandels“ (eigentlich großartig, was es alles gibt!) veranstaltete heuer eine Ausstellung über die „Buchforschung in Frankfurt“, wo bereits im späten Mittelalter auf dem ehemaligen Getreidemarkt alljährlich mit Handschriften gehandelt wurde, wenige Jahrzehnte nach Gutenberg die Buchdrucker ihre Folianten herbeikarrten, um Tauschgeschäfte au machen, wo damals schon Geschäftspartner aus Venedig, London, Leiden, Krakau, Lyon zusammenkamen, um mit den Drucken der römischen und griechischen Klassiker ihr von den Behörden mitunter mißtrauisch beobachtetes Geschäft zu machen, wo damals Lateinisch gesprochen wurde wie heute Englisch, und bereits damals auch das Verbotene, Schmähschriften gegen Kaiser und Papst, kursierte.

Was aber die manchmal konstatierten, dann wieder konstruierten und heuer völlig vermißten literarir sehen Trends angeht: damit hat nicht einmal ein Tausendstel der gezeigten Neuerscheinungen zu tun. Und Entwicklungen auf dem Markt gibt es auch dann, wenn gerade keine literarische Mode registriert werden kann.

Zu registrieren wäre: Der Zug zur historischen Lektüre hält an. Ich pflichte Erwin Barth von Wehrenalp bei, der bei der Präsentation von Nigel Davies' „Bevor Columbus 'kam“ dem Vorurteil entgegentrat, es handle sich hier um Flucht aus der Gegenwart, im Gegenteil, Beschäftigung mit Geschichte sei Voraussetzung zum Verstehen der Gegenwart. Die Deutschen wollen Historisches lesen, deutsche Historiker können oder wollen nicht populär schreiben — es ist ein Symptom, daß das Werk des Briten Davies über „Ursprung, Wege und Entwicklung der altamerikanischen Kulturen“ zuerst in deutscher Übersetzung erschien und daß die Weltrechte beim deutschen Econ-Verlag liegen.

Zu registrieren wäre: Österreich ist nicht nur ein wichtiges Absatzgebiet deutscher Verlage, das oft einen überproportionalen Teil der Auflagen aufnimmt Verlage . wie Molden, Zsolnay, Residenz, führen in der Bundesrepublik heute auch keineswegs ein Schattenidasein, und der Salzburger Residenz-Verlag vermag österreichische Dichter international ebenso durchzusetzen wie die Mehrzahl der bundesdeutschen) Verlage. Wichtige Residenz-Neuerscheinungen: „Der Keller“ von Thomas Bernhard, „Die Mystifikationen der Sophie Silber“ von Barbara Frisch-muth, „Herrenjahre“ von Gernot WoMgruber, „Meteoriten“ von Andreas Okopenko, „Die Schattenuhr“ von Rudolf Bayr, „Der Fluß der Gedanken durch den Kopf“ von Peter Rosei.

Zu registrieren ist aber vor allem der Zug au anspruchsvolleren und aufwendigeren Taschenbuchprojekten. Obwohl auf die Taschenbücher nur rund elf Prozent der gesamten deutschen Titelproduktion entfallen, kaufen heute in den lesefreudigsten Schichten viele vorwiegend Taschenbücher. Immer öfter ist bereits die Erst- und Originalausgabe das Taschenbuch, oder gebundene Ausgabe (für die wissenschaftlichen Bibliotheken) und Taschenbuch (für die Studenten und andere Privatkäufer) kommen gleichzeitig auf den Markt. Erfolgreiche Werke, die nicht innerhalb weniger Jahre nach dem Erscheinen der Leinenausgabe auch als Taschenbuch zu haben sind, gewinnen langsam, aber sicher Seltenheitswert.

Immer mehr vielbändige, große Werke, die anders für die meisten Menschen nicht oder nur unter Opferung anderer Wünsche erschwinglich wären, kommen nun als Taschenbücher auf den Markt. So beim Deutschen Taschenbuchverlag '(dtv) Kindlers Malerei-Lexikon, das hier in 15 flexiblen Bänden mit 4800 Seiten und 4200 Abbildungen nur ganze 2680 Schilling kostet, gegenüber 9147 Schilling für die (vergriffene) Originalausgabe. Oder bei Ullstein der ungekürzte Text der gesamten Propyläen-Weltgeschichte in 22 Taschenbüchern mit einem Teil der Illustrationen für weniger als 1700 Schilling (befristete Subskriptionspreise).

Solche Großprojekte sind die Spitze eines Berges aus zahllosen Kassettenausgaben. Jede Generation, oder mindestens jede zweite, macht sich ja bekanntlich daran, die Klassiker der eigenen wie der Weltliteratur neu zu drucken, und wer heute etwa den Insel-Goethe der zwanziger Jahre besitzt, ist darauf nicht weniger stolz als der Hüter einer Ausgabe „letzter Hand“; sie notiert im Antiquariat auch nicht um so viel niedriger. Heute ist wieder einmal der Neudruck der Klassiker, der alten wie derer, die es erst seit kurzem sind, im vollen Gange — aber als eine auf das Taschenbuch beschränkte Erscheinung.

Es gibt also eine breite, tragfähige Schichte wohl vorwiegend junger Menschen, die mehr Bücher kaufen, als sie (wenigstens alsbald) lesen •können. Statt der großväterlichen Bücherschränke hat man heute Regale, auch ist das Wort vom „Bildungsbürgertum“ nach wie vor scheel 'angesehen, Faktum aber ist: Was auf den Regalen steht, scheint den “Wunsch zu signalisieren, Traditionen zu verarbeiten — oder neue zu begründen.

Ist das so neu? Verlagsleiter Heinz Friedrich von dtv äußerte gegenüber der FURCHE die Ansicht, daß es den potentiellen Markt für große Werke zu niedrigem Preis immer schon gegeben hat, daß er aber nicht bedient werden konnte. Goethes gesammelte Werke etwa wollten ganz offensichtlich stets mehr Menschen besitzen, als sie sich leisten konnten — die Taschenbuchausgabe erschien vor bereits 15 Jahren und war ein schlagender Erfolg. Man kann sagen, daß Rowohlt und dtv dem Taschenbuch im deutschen Sprachraum die Bahn gebrochen und auch international starke Impulse gegeben haben. Rowohlt, noch immer der größte seiner Art in deutschen Landen, begann nach dem Krieg mit dem Druck von Weltliteratur auf Zeitungspapier, im Eeitungsrotationsdruck und ganz am Anfang sogar im Zeitungsformat — Millionen wollten lesen, was sie in den Jahren zuvor nicht hatten lesen dürfen. Der Deutsche Taschenbuch-iverlag hingegen erschloß dem Taschenbuch Niveau-Bereiche, die man, so Friedrich, vordem „nicht für taschenbuchfähig gehalten hatte, etwa Lyrik und moderne Literatur“. Dem dtv-Goethe folgten Schiller-und Kleistauagaben, bereits vor zehn Jahren ein Brockhaus in 20 Bänden, in anderen Verlagen bald ebenso anspruchsvolle Reihen (Sammlung Luchterband, Reihe Hanser, Edition Suhrkamp) und auch bereits weitere Großunternehmungen, wie Brecht, Kant, Hegel bei Suhrkamp.

Wobei, auch darauf weist Friedrich hin, die „mühsame und manchmal auch mit großen finanziellen Opfern Verbundene Vorarbeit“ der Originalverlage bestimmte große Taschenbuch-Vorhaben erst ermöglicht: Literatur- und Malereilexika wie die Kindlerschen wären als Originalleistung eines Taschenbuchverlages unmöglich gewesen, da hier die Auflage hätte höher sein müssen, als sie je hätte sein können, um die Entwicklungskosten im Preis unterzubringen. Zwischen dem „Normalbuch“, dem sogenannten Hardcover, und dem Taschenbuch besteht also eine starke Wechselwirkung, die Vorarbeit großer Verlage macht bestimmte Taschenbuchprojekte, anderseits aber auch der Vertrag mit einem Taschenbuchverlag bestimmte Hardcover-•Vorhaben erst möglich. Das Taschenbuch bringt großen Umsatz — und hat damit die Literatur demokratisiert wie nie zuvor. Niemand braucht heute aus finanziellen Gründen auf anspruchsvolle und anspruchsvollste Lektüre (und auf das Kaufen von Büchern, die er erst später lesen will) zu verzichten.

Vor zehn Jahren, so Theodor Fuchs vom Ullstein-Verlag, hätte man eine Propyläen-Weltgeschichte als Taschenbuch glatt für unmöglich gehalten — vor fünf Jahren 'hingegen „vielleicht daran gedacht, aber gewußt, daß die Zeit noch nicht reif dafür war“. Heute erscheint bei Ullstein die „Geschichte der Philosophie“ nur noch als mehrbändiges Taschenbuch, und manche wissenschaftliche Werke, die als Studienlektüre benötigt werden, kosten kaum weniger als ein billigerer gebundener Roman — würden aber in Leinen hunderte Schilling kosten. Viele Verlage geben zu, daß sie von ihren Taschenbuch-Erfolgen selbst überrascht waren — zweifellos haben die 40.000 von Kindlers Literaturgeschichte bei dtv verkauften Taschenbuchausgaben in 25 Bänden dem Verlag den Mut für das noch aufwendigere Malereilexikon gemacht, und Rowohlt hatte bei der Tucholsky-Kassette, deren Subskriptionspreis ursprünglich kaum über 600 Schilling lag, mit höchstens 30.000 Exemplaren gerechnet — mittlerweile sind es 50.000, und das Interesse flaut vorerst noch nicht ab. Das nächste Groß-Taschenibuch von Rowohlt steht bevor: Eine Robert-Musil-Gesamtausgabe, in der nur der (riesige) Briefwechsel fehlen soll. Ihn gäbt es vorerst nur gebunden, aber sicher wird auch er eines Tages als Taschenbuch zu haben sein.

Sehen wir von den leider kaum regalfähigen Reclam-Ausgaben, die vom späten vorigen Jahrhundert bis ?.um Zweiten Weltkrieg faktisch ein Monopol auf Weltliteratur-Biiligaus-gaben hatten, ab, waren „Gesammelte Werke“ noch nie so billig wie heute. Um nur einige Beispiele der allerletzten Zeit zu nennen: Tschechow-, Moliere-, aber auch Chandler-Kassetten bei Diogenes, Edgar Allan Poe als zöhnbändige Paperback-Kassette bei Walter, Fontane ebenfalls als Paperback-Kassette bei Ullstein, die „Märchen aus 1001 Nacht“ bei Insel, Heine bei Hanser, die achtbändige Mommsen'sche „Römische Geschichte“ bei dtv — die Reihe wäre noch fortzusetzen, ebenso die Liste der Verlage.

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