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Weil dem Menschen das Hemd näher ist als der Rock, denken und sprechen wir in Europa vor allem von den eigenen politischen Sorgen, zu denen auch die neue Entwicklung in den Beziehungen zwischen Amerika und der Sowjetunion gehört. Wir vergessen zu leicht, daß es noch andere Länder und Weltteile gibt, deren Zukunft vielleicht in absehbarer Zeit ebenso wichtig sein könnte wie das, was auf der nördlichen, industrialisierten Hälfte der Erdkugel geschieht.

Die sogenannte Dritte Welt, oder die unterentwickelten Kontinente und Länder, ist aber auch in voller Wandlung begriffen. Ein Blick auf Südamerika lohnt sich in diesem Zeitpunkt, da in verschiedenen Staaten dieses Halbkontinents Veränderungen von weittragender Bedeutung vor sich gehen. Es liegt auf der Hand, daß das neue Regime in Argentinien das Kräfteverhältnis in Südamerika bedeutend umgestaltet hat.

Als ich das letzte Mal in Südamerika weilte, war in Buenos Aires noch Juan Domingo Perön unbestrittener Diktator eines Regimes, das populär war, weil Perön die arbeitendem Massen begünstigt und den Anteil der Lohnempfänger am Bruttosozialprodukt stark erhöht hatte. Nachdem dieser Mann, nach einem Exil von 18 Jahren, als Triumphator — dank der Wahl seines Kandidaten Hector Cäm-pora zum Präsidenten Argentiniens — in seine Heimat zurückkehren konnte, stellt sich die Frage, welche Politik der heutige Peronismus machen wird. Wird er seine Anhänger enttäuschen? Oder wird er eine Sozialpolitik wählen, die Argentinien in die ideologische und politische Nachbarschaft der Andenstaaten führen wird?

Auf den ersten Blick sieht es aus, als ob der neue Peronismus einen Linkskurs einschlagen würde: Salvador Allende, der Präsident Chiles, stand bei der Vereidigung Cämporas Pate, und dieser hat die diplomatischen Beziehungen zu Kuba, zu Nordkorea und Nordvietnam aufgenommen; er hat auch unverzüglich sein Versprechen gehalten, sämtliche politischen Gefangenen zu befreien.

Ein zweiter Blick auf die politische Landschaft Argentiniens bietet ein anderes Bild. Noch im letzten November sagte Perön: „Wenn ich zwanzig Jahre alt wäre, wäre ich ein Guerillero.“ Doch noch ehe er Madrid verließ, hat er die „Peronlstische Jugend“, die sich auf Mao beruft, energisch zur Ordnung gerufen. Zu seinen Vertrauten sagte Perön, er wolle der „Manager des neuen Argentinien“ sein. Cam-pora, der sich ein eigenes Profil als Staatspräsident zu geben trachtet, hat die linksextremen Gruppen deutlich gewarnt, und innerhalb der heutigen Partei und Regierung spielen konservative Kräfte eine nicht zu unterschätzende Rolle. Alles deutet auf einen politisch und wirtschaftlich vorsichtigen Kurs, der die Fehler, die Chile zum Verhängnis wurden, zu vermeiden trachtet. Die sogenannte Revolutionäre Volksarmee, die sich zum Trotzkismus bekennt, dürfte ihr Programm, „den Kampf fortzusetzen, der eben begonnen hat“, kaum durchführen können. Den ausländischen Gesellschaften und Banken hat Campora zu verstehen gegeben, daß er nicht ihre Verstaatlichung im Sinne habe. Zwar wissen die ausländischen Finanzgruppen, daß die Kontrolle des Kredits strenger durchgeführt werden wird und daß sich die Investitionen von ausländischem Kapital den Regeln anpassen müssen, die in Mexiko und in den Andenstaaten in Kraft stehen. Aber wie für den Präsidenten Echeverria von Mexiko, heißt es auch in Argentinien: „Vor allem nicht Angst machen!“

Mit dem erfolgreichen Geschäftsmann Gelbard, den man mit Onassis vergleicht, als Finanzminister ist bereits ein Weg eingeschlagen worden, der, in deutlichem Gegensatz zu Chile, auf einem Pakt zwischen den Sozialpartnern — dem Allgemeinen Gewerkschaftsbund und dem Unternehmerverband — beruht. Die drastischen Maßnahmen, die die neue Regierung ergriffen hat, wirken wie eine kalte Dusche für alle jene, die glaubten, daß der neue Präsident wie ein Weihnachtsmann Geschenke austeilen werde. Campora hat in einer Erklärung den „internationalen dogmatischen Sozialismus“ abgelehnt und den Massen zu verstehen gegeben, daß sie sich gedulden müssen. Zwar wird weder er noch Finanzminister Gelbard die Expansion der Stabilität opfern; aber sie müssen mit bewährten Mitteln versuchen, das Land aus dem Marasmus herauszuführen, die Produktion anzukurbeln, die Inflation zu verlangsamen, Preise und Löhne unter Kontrolle zu bringen, das fremde Kapital nicht zu erschrecken und auf diesem wohl undankbaren, aber keineswegs revolutionären Weg die Volkswirtschaft, die Staatsflnanzen und die Währung zu sanieren. Sicher geht Argentinien schweren Zeiten entgegen; denn es ist unvermeidlich, daß nach der Begeisterung, mit der das Militärregime gestürzt und der Peronismus zur Macht zurückgeführt wurde, Ernüchterung um sich greifen wird. Campora und Perön, mit der Hilfe der Sachverständigengruppe, von der sich Gelbard beraten läßt, werden ebensoviel Geschicklichkeit wie Festigkeit brauchen, um sich durchsetzen zu können.

Daß in Chile der Versuch Salvador Allendes, mit demokratischen Mitteln und in gesetzlichen Formen den Sozialismus einzuführen, an einem kritischen Punkt angelangt ist, bedarf keiner langen Ausführungen. Es wird sich zeigen müssen, ob die Union der Linken, um sich an der Macht zu halten, eine Diktatur errichten muß, oder ob sie gegenüber der Opposition der Christlichsozialen Partei Eduardo Freis und der Rechten ein Mindestmaß von demokratischer Zusammenarbeit aufrechterhalten kann und will. Chile hält den Weltrekord der Inflation; nach dem mißlungenen Putschversuch einer Militäreinheit haben die streikenden Arbeiter der Kupferminen ihre Arbeit wieder aufgenommen. Aber der Verlust des ausländischen Vertrauens in die chilenische Wirtschaft wird voraussichtlich andauern.

Südamerika ist ein Kontinent scharfer Gegensätze. In Brasilien erklärte Präsident Medici: „Der brasilianischen Wirtschaft geht es gut, aber dem Volk geht es schlecht.“ Die Wirtschaftspolitik Brasiliens ist die gleiche, mit der im 19. Jahrhundert Europa reich wurde und die die arbeitenden Massen 1 ige in Armut ließ. Diese Politik beruht auf dem Grundsatz, daß die Produktion erhöht werden muß, ehe sich der Konsum erhöhen kann.

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