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Viele schöne Worte

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Bei den kurzen Ausflügen, die der Weltreisende Henry Kissinger seinen südlichen Nachbarn widmete, kam er — bewußt außerhalb der „Organisation Amerikanischer Staaten“ — in Mexiko mit deren Außenministern zusammen. Die „neuen Beziehungen auf der Basis der Gleichberechtigung“ werden seitdem als „Geist von Tlatelolco“ (Mittelpunkt der mexikanischen Hauptstadt) bezeichnet. Er wird unaufhörlich bei der jetzigen Kissinger-Reise beschworen. Nun läßt sich nicht verkennen, daß der nordamerikanische Außenminister auch dann in einer schweren Situation wäre, wenn ihn nicht der Kongreß bekämpfte und das Wahljahr in den USA ihn nicht zu ständigen Konzessionen zwänge. Die Anliegen der lateinamerikanischen Länder beziehen sich vor allem auf wirtschaftliche Fragen. Brasilien hatte 1975 ein Defizit von 1700 Millionen Dollar im Handelsaustausch mit den USA. Brasilien wendet sich scharf gegen einen Sonderzoll, der etwa auf die Einfuhr brasilianischer Schuhe nach den USA erhoben wird, weil in der Subvention für Industrieprodukte ein Dumping gesehen wird. Venezuela ist über die Diskriminierung empört, der es als petroleumförderndes Land nach dem Außenhandelsgesetz unterworfen ist, obwohl es an dem Boykott, für den sich der nordamerikanische Kongreß jetzt revanchiert, nicht beteiligt war. In allen diesen Wirtschaftsfragen ist das Außenmi-

nisterium nicht federführend. Ganz abgesehen davon, ist es der Kongreß, der die Konzessionsbereitschaft Kissingers bei diesen Problemen, deren politische Nachteile außer jedem Verhältnis zu ihrem ökonomischen Nutzen stehen, lähmt. Auf der anderen Seite kann Kissinger, der selbst die Fäden zu Peking geknüpft hat und mindestens aus taktischen Gründen für eine Entspannungspolitik plädiert, sich nicht dagegen wenden, daß die lateinamerikanischen

Länder mit der „Dritten Welt“ flirten, obwohl sich auf diese Weise in den internationalen Organisationen ein feindlicher Block gegen die USA bildet. Auch hat er von vornherein erklärt, daß er aus der sowjetischkubanischen Intervention in Angola nicht die Folgerung ziehe, bei seiner Lateinamerikareise eine neue anti-castristische Front zu bilden.

Sein Manöverfeld ist also eingeengt. Deshalb ist es begreiflich, wenn auch bedauerlich, daß das als „neuer Plan für Lateinamerika“ bezeichnete „6-Punkte-Programm“, das er ; in Venezuela verkündete, nur Gemeinplätze der kontinentalen Politik wiederholt. Daß die stärker industrialisierten lateinamerikanischen Länder Kapital und technologische Partizi-

pation, die Notleidenden hin und wieder Wirtschaftshilfe brauchen, die lateinamerikanischen Integrationsbewegungen und ihre multilateralen Banken von den USA unterstützt und die „Organisation Amerikanischer Staaten“ modernisiert werden sollen, steht seit langem fest. Es wirkt grotesk, wenn diese alten Hüte als „neuer Plan“ bezeichnet werden. Das Abkommen, das Kissinger in Brasilien unterzeichnet hat, mag von geringer politischer Tragweite sein, aber es ist wenigstens psychologisch außerordentlich geschickt. Die neue brasilianische Politik des „verantwortungsvollen Pragmatismus“, ins Deutsche übersetzt: die Politik des ideologiefreien Opportunismus, wird gerade damit begründet, daß dieses Land sich von

der nordamerikanischen Hegemonie freimachen mußte, um seinen Großmacht-Träumen näherzukommen. Damit, daß die USA sich verpflichten, Brasilien in Fragen der Wirtschaft und der Weltpolitik zu konsultieren, vergeben sie sich nichts, denn Befragen bedeutet ja nicht, daß man auch dem Rate folgt. Auf der anderen Seite ist damit der brasilianische Anspruch, zur Weltmacht aufzusteigen, anerkannt worden. Das Geltungsbedürfnis der Nationen spielt eine ähnlich große Rolle wie ihre finanziellen Notwendigkeiten. Kissinger hat zwar kein Geld mitgebracht, aber er hat mit seiner „einzigartigen Erklärung“ an Brasilien diesem Staat einen hohen Orden verliehen, der freilich den Neid von 20 anderen lateinamerikanischen Ländern noch steigern muß.

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