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Vier Kleeblätter

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Aus historischen Zusammenflüssen und Schnitten unterschiedlichster Kaliber, aus Entscheidungen diverser Konstellationen von Siegermächten, die in der Neuzeit ebenso wie schon im Mittelalter gefällt wurden, wuchs auf der Landzunge Europa, in der Mitte davon, der vierblättrige Klee der deutschen Sprache: die Bundesrepublik Deutschland, die Deutsche Demokratische Republik, die Schweiz und Österreich. Sie umfassen verschiedene deut-

sehe Stämme, vermischt mit angrenzenden Völkern, und sie haben außer der deutschen Sprache, wie Kleeblätter eben sind, auch noch weiße Streifen anderer Sprachen in ihren Grenzen: die Bundesrepublik Spuren von Dänisch und Holländisch, die DDR von Polnisch, Österreich von Slowenisch, Kroatisch, Ungarisch und Tschechisch, die Schweiz Anteile von Französisch und Italienisch! Von den Gastarbeitern sei hier abgesehen.

Jedenfalls ist im Vergleich zum Grün des jeweiligen Kleeblattes das Weiß die Minderheit. Es handelt sich tatsächlich um vier deutschsprechende und deutschschreibende Staaten.

Sie unterscheiden sich in vieler Hinsicht voneinander, aber sie sitzen am gleichen Stiel. Sie unterscheiden sich in der Größe ihrer Bevölkerung, aber das geht nicht in die Kleeblattgröße ein. Sie unterscheiden sich in ihrer Geschichte. Die zwei nördlichen Blätter gehörten bis vor kurzem noch zusammen und waren entscheidend in den letzten großen Völkerkrieg verwickelt. Das südöstliche Kleeblatt gehörte episodisch ebenfalls dazu, war als Anhängsel mitgerissen in den Krieg und kam verhältnismäßig glimpflich wieder aus ihm heraus. Das südwestliche Kleeblatt ist schon lange ein eigenes Kleeblatt; es schaute dem Völker krieg nur zu.

Sie unterscheiden sich in ihrer Geographie. Die beiden nördlichen Blätter haben fast ausschließlich fruchtbares Land, die beiden südlichen Blätter große unfruchtbare, aber schöne Gebirge. Dafür ist das Klima etwas südlicher im Süden, regnerischer im Nordwesten, kälter im Nordosten. Die beiden südlichen Kleeblätter haben mehr Schnee, aber oberhalb der Tausendmetergrenze auch im Winter oft goldenen Sonnenschein. Darunter wogen die Nebel. Die beiden nördlichen Blätter dagegen sind naßgrau im Westen, blei- bis eisgrau im Osten. Die Sonne kommt selten im Winter durch.

Die vier Kleeblätter unterscheiden sich auch in der Mentalität ihrer Menschen. Im Nordwesten sind sie fleißig und elegant, intelligent und romantisch, im Nordosten fleißig und korrekt, intelligent und nüchtern. Das südwestliche Kleeblatt beherbergt fleißige, wohlhabende, sparsame, intelligente und beharrliche, das südöstliche lustig-ironische, intelligente und philosophische Menschen. Intelligent sind sie alle, aber im nordwestlichen Kleeblatt ist die Intelligenz blau und klar, im Nordosten grau und straff; im Südwesten ist sie fast identisch mit ununterdrückbarem Hausverstand. Im Südosten ist sie ein Schmetterlingsschwarm, ein Gemisch aus Farben, Schärfe, formaler Schönheit und häufiger Nutzlosigkeit.

In friedlichen Wettbewerben und in vielen Sparten kultureller Betätigung sind sie zu viert kaum zu schlagen, aber aufs Schlagen kommt es gar nicht an. Mehr aufs Lebengelassenwerden. Als vierblättriger Klee, als Glücksbringer für die Menschen deutscher Sprache, für ihre Anrainer und vielleicht noch für viele andere.

Auch wirtschaftlich ist dieser Klee nicht ohne Bedeutung. Dabei waren drei der vier Blätter vor drei Jahrzehnten beinahe gestorben. Da hingen sie welk vom Stiel, bis das Wunder des Marshall- Planes den Saft im Nordwesten und Südosten wieder zum Steigen brachte.

Zwei der vier Kleeblätter, die deutschen Alpenländer, haben ihre immerwährende internationale Neutralität erklärt, eines schon seit langem, das andere in der Gegenwart, unter anderem weil nur auf diese Weise die innere Vierteilung dieses Blattes, des südöstlichen, unter den siegreichen Besatzungsmächten beendet werden konnte. Untergeteilte einzelne Kleeblätter wollen nicht recht gedeihen.

Im Norden entstanden durch die Uneinigkeit der Siegermächte überhaupt erst die beiden nördlichen Kleeblätter, obwohl sie keimhaft vielleicht schon viel länger angelegt waren. Wohl zur Steigerung und Durchleuchtung des Siegerkonfliktes entstand das alliierte Berlin, eine Art von Miniatur des vierblättrigen Klees. Genauer genommen, eine Miniatur des nördlichen Kleeblattanteils, eine Art von Vierteilung am Stie…nd ein untergeteilter Stiel taugt noch weniger als ein untergeteiltes einzelnes Kleeblatt Das demonstrierten die Mauer sowie der Gesamtzustand von Berlin. Wo einstens die deutsche Sprache lebendiger quoll und allgemeiner verständlich war als an jeder anderen Stelle des Klees —

sei es Bonn oder Zürich und Wien, dort siecht es nun dahin, mit Importen von Gästen und Gammlern und Schiebern und Haschern und Spritzern und Strichmenschen, Bundeswehrflüchtern, Chaoten und Säcken von Geld.

Wer kann dafür? Wir alle sind Opfer der unheilvollen Natur des Menschen. Um gut zu werden, müssen so viele Bedingungen, so unwahrscheinliche Umstände lange und ununterbrochen erfüllt sein, daß ein einzelner guter Mensch eine seltene Überraschung ist, ein gutes Volk eine große Unmöglichkeit. Im Völkerbereich, da rauben sie alle noch immer einer vom andern. Da wird munter getötet. Da werden immer noch Völkermorde geplant.

Die historische Chance

Das gilt auch für die deutschsprachigen Staaten, für unseren betroffenen vierblättrigen Klee. Die Menschen der deutschen Sprache haben es auch nicht leicht, gute Menschen zu werden. Als Völkern entsteht ihnen allerdings eine historische Chance. Sie sind alle vier auf jene Grenzen zurückgedrängt, die ihnen niemand mehr streitig macht. Die Sieger haben ihnen beim jeweils letzten Inkasso ihr derzeitiges Wohnland konzediert, der Schweiz 1648 und 1815, Österreich 1918 und 1955, den beiden deutschen Staaten 1945. Die deutschsprachigen Staaten haben alles hergegeben, was andere von ihnen haben wollten. Wenn sie nichts davon zurückverlangen und wenn sie auch voneinander nichts Zusätzliches haben wollen, dann gibt es keinen Grund zu schießen.

Wenn die Bundesrepublik und die DDR davon Abstand nehmen, aufeinander zu schießen, und zwar ganz von selbst davon Abstand nehmen, aus Instinkt, ohne jede Vereinbarung, und wenn ihnen die beiden südlichen Kleeblätter, Österreich und die Schweiz dabei behilflich sind, wenn es völlig selbstverständlich ist, daß alle vier deutschen Kleeblätter nicht aufeinander schießen, und wenn auch in der Miniatur Berlin nicht geschossen wird, dann kann der Krieg der Supersieger möglicherweise gar nicht beginnen. Das wäre die gute Völkertat des deutschen vierblättrigen Klees im Herzen der Landzunge Europa. Eine kleine, aber ausreichende Tat. Und vielleicht kommt es gerade auf solche kleine Taten an.

Der bekannte österreichische Autor ist ordentlicher Professor für Psychologie an der Universität Erlangen.

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