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Vier Seiten Pergament als Garant der Freiheit

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Das Bicentennial der Bundesverfassung der Vereinigten Staaten ist mehr als eine nostalgische Reminiszenz wert. Nicht nur für die Amerikaner beginnt mit der Unterschrift ihrer „Verfassungsväter“ unter das Dokument von Philadelphia das Zeitalter der modernen, demokratischen Verfassungsstaaten.

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Das Bicentennial der Bundesverfassung der Vereinigten Staaten ist mehr als eine nostalgische Reminiszenz wert. Nicht nur für die Amerikaner beginnt mit der Unterschrift ihrer „Verfassungsväter“ unter das Dokument von Philadelphia das Zeitalter der modernen, demokratischen Verfassungsstaaten.

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Seit 200 Jahren verstehen sich die Amerikaner als das erste Volk, das sich eine Verfassung selber gegeben hat. Sie wurde für Amerika eine Art weltliche Bibel. Noch immer pilgern Menschenmassen zu den vier Seiten Pergament, die den Rahmen für das Regierungssystem einer Weltmacht festlegen.

Die USA sind jung.Jhre Verfassung ist alt. Sie ist die älteste ihrer Art und vielleicht auch die kürzeste. Die Rechtsprechung und das Schrifttum füllen freilich eine Bibliothek. Denn was die Verfassung bedeutet, bestimmen die Richter.

Dadurch, daß der Oberste Gerichtshof eine umfangreiche Rechtsprechung zur Verfassung entwickelte, entsteht immer wieder lebendiges Verfassungsrecht, und die 7.567 Worte der Verfassung samt Ergänzungen bleiben bestehen.

So wurde die Verfassung zum politischen Symbol neben der Fahne der USA und geradezu ein Gegenstand der Verehrung.

Die Verfassung der USA stammt noch aus der Zeit vor der Französischen Revolution und wird noch im 21. Jahrhundert die Grundordnung eines der mächtigsten Staaten der Welt sein.

Das wußten freilich die Verfassungsväter nicht. Sie konnten weder mit der Militärmacht noch mit dem großen Verwaltungsapparat oder mit den Massenmedien von heute rechnen. Aber sie hatten ein Mißtrauen gegen das Parteiwesen und die Staatsallmacht. Deshalb schufen sie einen komplizierten Mechanismus, von dem manche gesagt haben, daß es ein Wunder sei, daß er funktioniert.

Dabei war die vorhergegangene Erfindung der Technik der Repräsentation von großer Bedeutung. Erst die Ausformung der Repräsentation des Volkes machte ein Parlament neben Verwaltung und Gerichtsbarkeit und damit ein System der Gewaltenteilung möglich.

Die Konstitution war aber nicht eine Konstruktion im Sinne eines Planes auf dem Reißbrett. Sie war die praktische und rechtliche Konsequenz aus alten Erkenntnissen, Erfahrungen und Experimenten.

Die Verfassungsväter kannten die klassischen Werke der politischen Wissenschaft, sie hatten eine vernünftige Vorstellung von der menschlichen Natur und sie hatten Erfahrungen mit der Macht.

Die Verfassungsväter hatten ein Mißtrauen gegenüber der un* beschränkten Demokratie. Durch die föderative Ordnung wurde nicht nur die Mehrheit, sondern auch die Macht des ganzen Volkes in Schranken gehalten. Die Verfassung hatte die Beschränkung der Staatsmacht zum Ziel, gleichgültig, wer sie ausübt.

Wenn „verf asSen“Gewalten teilen und beschränken heißt, so verlangen die in der politischen Praxis auftretenden Streitigkeiten nach einem Schiedsrichter. Die Herrschaft durch Verfassung und Gesetz bedarf eines Richters, der sagt, was rechtens ist.

So kam es zur Normenkontrolle durch die Gerichte und damit zur Gewährleistung der Verfassung durch die Gerichtsbarkeit. Die richterliche Kontrolle war die praktische Konsequenz der umfassenden Gewaltenteilung.

Für die Amerikaner war und ist die Erhaltung der Verfassung auch in Krisenfällen meist wichtiger als eine noch so wohlwollende Gesetzgebung. Daher schätzen sie die Gerichte hoch ein und schützen sie vor Gesetzgebung und Verwaltung. Die Erhaltung einer Herrschaft durch Verfassung und Gesetz zum Unterschied einer bloßen -Regierung durch Menschen ist letztlich dem Obersten Gerichtshof anvertraut.

Im Mittelpunkt des politischen Denkens, wie es sich in den berühmtesten Erläuterungen des Verfassungsgutes im „Federalist“ findet, steht das Amt und seine Übertragung, die auf Vertrauen beruht. Das Prinzip der übertragenen Macht setze voraus, daß die Menschen eine gewisse Portion von Anständigkeit, Tugend und Ehre besitzen, welche ein gewisses Maß an Vertrauen rechtfertigt; und die Erfahrung bestätigte diese Theorie.

Aus diesem Grund wendet die amerikanische Öffentlichkeit den Tugenden und Untugenden ihrer öffentlichen Amtsträger bis ins Privatleben hinein so viel Aufmerksamkeit zu, daß es uns manchmal bizarr erscheint.

Aber die beste Verfassung er-, setzt nicht den Charakter, und dieser ist nur in der Fülle der Situationen des privaten und öffentlichen Lebens an einem Menschen erkennbar.

Die Verfassungsväter machten sich keine Illusionen. Sie rechneten damit, daß auch schlechte und böse Menschen an die Macht kommen können. Deshalb zerlegten sie die Staatsmacht in Stücke und schufen das komplizierte System der Gewaltenteilung und -Verbindung, damit solche Menschen in Ämtern nicht allzu großen Schaden anrichten.

Für die anvertrauten Ämter wurden die Amtsinhaber auch verantwortlich gemacht. Auch der beste Charakter braucht eine Verfassung.

So wurde die amerikanische Verfassung nicht nur die wichtigste Verfassung der Freiheit in einer Welt von 170 Staaten, sondern auch, wie es das amerikanische Magazin „Time“ formulierte, das amerikanische „Superego“.

Unsere Freiheit ist vergleichsweise zu der der Amerikaner sehr jung und trotz ihrer Jugend gerade im 20. Jahrhundert unterbrochen, gebrochen und gelenkt worden. Die Verehrung unserer Verfassung kommt nicht zuletzt aus diesem Grund — es gibt auch andere — zu kurz.

Wir erfreuen uns nicht schon seit 200 Jahren einer Verfassung der Freiheit wie die Amerikaner. Aber auch unsere Verfassung hat vieles von dem Freiheits- und Rechtssinn der amerikanischen. Sie bietet der Freiheits- und Rechtsgesinnung die besten Chancen. Wir müssen sie nur wahrhaben und wahrnehmen.

Der Autor ist Professor für Rechtslehre an der Universität für Bodenkultur und OVP-Stadtrat in Wien.

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