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Vietnam vor der Wende

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Vietnam erlebt derzeit eine richtige kulturelle Revolution. Das kommunistische Land öffnet sich vorsichtig und signalisiert eindeutig Reformwillen.

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Vietnam erlebt derzeit eine richtige kulturelle Revolution. Das kommunistische Land öffnet sich vorsichtig und signalisiert eindeutig Reformwillen.

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Seit Ende Dezember 1986, als der VI. Kongreß der kommunistischen Partei stattfand, erlebt Vietnam eine Periode der Öffnung. Und diese ist dringend nötig, will das Land Schlimmes vermeiden. In der Wirtschaft wurden ausländische Investitionen erleichtert. Politisch ist heute Kritik möglich geworden, und die Vietnamesen lassen diese Möglichkeit - besonders in der Presse — nicht ungenützt.

Vor nicht langer Zeit konnte ich frei und ohne „obligatorische Begleitung“ das Polit-Klima des

Landes erkunden, das sich noch nicht vom langen Krieg erholt hat. Vietnam versucht heute durch Liberalisierungsmaßnahmen die Herausforderung des Friedens anzunehmen und den Wohlstand wiederzufinden.

Für einen Europäer ist die Ankunft in Ho Chi Minh-Stadt — so heißt Saigon seit der Eroberung durch die Kommunisten am 30. April 1975 — eine beschwerliche Erfahrung. Ein quietschendes Auto fährt vom Flughafen zum Zentrum unter Verachtung aller Rotlichter und der Rechtsvorfahrt. Und das in einem unwahrscheinlichen Gewirr von Rikschas, Fahrrädern, Lastwagen, Fußgängern und Kindern.

Ho Chi Minh-Stadt ist keineswegs eine tote Stadt. Im Schatten der von den Franzosen gepflanzten Bäume gibt es unzählige Stra-

ßenhändler. Unter sie mischen sich die Wechsler - offensichtliches Zeichen eines Landes in wirtschaftlichen Schwierigkeiten —, die den Dong (vietnamesische Währung) zu einem höheren Kurs als dem offiziellen gegen Dollars tauschen.

Die unerläßliche Suche nach Dollars zeigt eine Besonderheit der vietnamesischen Wirtschaft. Es ist leichter, ein Motorrad - das beliebteste Transportmittel in diesem Land — mit Dollars zu ergattern als mit einheimischem Geld.

Eine Honda kostet 1,8 Millionen Dong. Ein erschreckender Preis, denkt man daran, daß das monatliche Gehalt zwischen 5.000 und 7.000 Dong liegt. In Dollars kostet dasselbe Produkt nur 3.000 Dollars. (Offiziell erhält man für den Dollar 500 Dong, auf dem Schwarzmarkt bis zu 1.500 Dong.) Dieser Unterschied erklärt auch, wieso die Mehrheit der Famüien versucht, mindestens ein Familienmitglied ins Ausland zu schik-ken.

Die Einfuhr von Devisen und ausländischen Waren ist nicht nur erlaubt, sondern wird gefördert.

So erreicht der Gegenwert von 300 Millionen Dollars das Land in den Frachträumen der Boeing der Air France, die zweimal die Woche in Ho Chi Minh-Stadt landet. Die Ankunft dieses Flugzeugs, das die einzige Nabelschnur Vietnams zu Europa darstellt, ist jedes Mal ein Ereignis in der Stadt.

Der demographische Druck in Vietnam ist groß. Die Vietnamesen —1978 noch 53 Millionen — sind heute zehn Millionen mehr. Trotz hoher Kindersterblichkeit (36,6 Promille) beträgt die Wachstumsrate 2,4 Prozent. Stirbt man auch nicht vor Hunger in Vietnam, so lebt doch die Mehrheit des Volkes in Armut und muß ums Uberleben kämpfen.

Das mittlere Gehalt liegt bei 5.000 Dong. Aber ein Kilo Reis, die Grundnahrung, kostet zwischen 220 und 350 Dong in Ho Chi Minh-Stadt und 550 Dong in Hanoi. Ein Küo Fisch kommt auf 1.000 Dong zu stehen. Mindestens 20.000 Dong braucht es also, um eine Familie mit vier Personen ausreichend zu ernähren. Die Folge ist klar: die Leute üben zwei Berufe aus — ein Lehrer wird am Abend noch als Rikscha-Fahrer arbeiten — oder zählen auf Pakete aus dem Ausland.

Die Märkte sind überall voll mit Waren, Früchten, Gemüse, Fischen und Fleisch. Nirgends findet man die für die Länder des Ostens typischen Warteschlangen. Trotzdem bereitet die Situation Sorgen.

Im Juni 1985 hat eine schlecht vorbereitete Geldoperation Panik. verursacht und das Land in eine Inflation gestürzt - 1986 waren

es 700 Prozent. Die Auslandsschuld erreichte 1986 8,1 Milliarden Dollars, was der Hälfte des nationalen Bruttosozialproduktes entspricht.

Um die Entwicklung der Wirtschaft anzukurbeln, wurden 40 Prozent der Böden im Mekong-Delta den Bauern zurückgegeben. Der freie Markt blüht. Gemischte Betriebe — mit bis zu 49 Prozent privatem Kapital — sind erlaubt und werden sogar gefördert.

Das unabhängige Handwerk entwickelt sich, die Genossenschaften werden mehr und mehr von den schweren staatlichen Vorschriften befreit. Jeder kann sein eigenes Unternehmen gründen, wenn es nicht mehr als zehn Angestellte umfaßt. Hinzuzufügen ist, daß die Hilfe der Hilfswerke von außen — darin eingeschlossen die katholischen — keineswegs vernachlässigbar ist.

Die Erneuerung ist also eingeleitet. Sie wird von einem großen kulturellen Einsatz begleitet. Die Presse ist weniger stumm. Zuvorderst steht die Tageszeitung von Ho Chi Minh-Stadt, „Saigon Giai Phong“. Sie wird in 250.000 Exemplaren verkauft. Heute erzählt man folgende Anekdote: „Früher kaufte man Zeitungen zum Einpacken. Jetzt, um sie zu lesen.“

Wenn die gegenwärtige Linie beibehalten wird, kann sich Vietnam mittelfristig sehr verändern. Prognosen sind noch verfrüht. Alles hängt von der internationalen Lage ab. Vietnam muß damit beginnen, das militärische Engagement in Kambodscha zu beenden. Und das Vertrauen der Welt suchen.

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