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Vietnamesische Lehre für Dublin

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In der Republik Irland ist nun Beelzebub angetreten, den Teufel auszutreiben. Der Teufel heißt in diesem Fall IRA, Beelzebub hört auf Namen wie „Bruch der Verfassung“, „Abschaffung der Menschenrechte“ und „Ende des Rechtsstaates“. Denn das Sondergesetz zur Bekämpfung der IRA könnte eines — möglicherweise nicht allzu fernen — Tages für die Demokratie in Irland nicht weniger gefährlich werden als für die IRA. Die Handhabung von Diktaturgesetzen hat ihre verhängnisvolle Eigendynamik, und das vom Dail, dem Parlament der Republik Irland, beschlossene Antiterrorgesetz ist ein Diktaturgesetz reinsten Wassers. Es setzt grundlegende Prinzipien jedes Rechtsstaates außer Kraft.

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In der Republik Irland ist nun Beelzebub angetreten, den Teufel auszutreiben. Der Teufel heißt in diesem Fall IRA, Beelzebub hört auf Namen wie „Bruch der Verfassung“, „Abschaffung der Menschenrechte“ und „Ende des Rechtsstaates“. Denn das Sondergesetz zur Bekämpfung der IRA könnte eines — möglicherweise nicht allzu fernen — Tages für die Demokratie in Irland nicht weniger gefährlich werden als für die IRA. Die Handhabung von Diktaturgesetzen hat ihre verhängnisvolle Eigendynamik, und das vom Dail, dem Parlament der Republik Irland, beschlossene Antiterrorgesetz ist ein Diktaturgesetz reinsten Wassers. Es setzt grundlegende Prinzipien jedes Rechtsstaates außer Kraft.

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Die Explosion einer in einem Mietwagen versteckten Bombe löste einen Erdrutsch aus, der die politische Landschaft der Republik innerhalb weniger Stunden grundlegend veränderte. Noch am Vorabend der nächtlichen Explosion hing das Schicksal des Sondergesetzes im Dail an einem seidenen Faden. Fine Gael, die stärkste Oppositionspartei des Landes, schien fest entschlossen, mit ihren 50 Abgeordneten gegen die Vorlage zu stimmen.

Sie nahm diesen Standpunkt ein, obwohl — oder gerade weil — sie seit Jahren vergeblich versucht hatte, Premierminister Lynch zu einer härteren Gangart gegen die IRA, zur Ausschöpfung aller gesetzlich gegebenen Möglichkeiten, zu veranlassen. Aber der Chef der Regierungspartei

Fianna Fail wies ein solches Ansinnen weit von sich, so lange er es für unpopulär hielt. Die überlange Schonzeit für die IRA war keineswegs auf Sympathien des Premiers für die IRA zurückzuführen, sie war einfach das Resultat einer realistischen Einschätzung der Stimmung im Lande, sie entsprach, wenn man so will, fundierten, begreiflichen, nur leider mit den Interessen beider Irland kollidierenden parteipolitischen Gesichtspunkten.

Doch das Ausbleiben einer unpopulären Entscheidung, mit Hilfe der bestehenden Gesetze gegen die IRA vorzugehen, gab dieser die Möglichkeit, ihre Position so zu zementieren, daß ihr eines Tages ausschließlich mit den Mitteln des Rechtsstaates kaum noch beizukommen war — wenigstens schien es so, zumindest für Lynch.

Nun trat im letzten halben Jahr in der Republik Irland ein entscheidender Umschwung der öffentlichen Meinung ein. Die Stellungnahme vieler Südiren für die IRA hatte stark romantische Motive, der südirische Verbal-Fanatismus bröckelte beim Gros der Bevölkerung um so

mehr ab, je mehr ihnen die Bomben und Scharfschützen näherzurücken schienen. Nun, da Lynch meinte, der Bevölkerung einen schärferen Kampf gegen die IRA ohne allzu großes Risiko für die Popularität und damit für die Wahlchancen seiner Partei, die sich 1974 wieder in allgemeinen Wahlen behaupten muß, zumuten zu können, ging er mit Sondergesetzen ins Parlament.

Was im Ausland nicht genügend zur Kenntnis genommen wurde: Fine Gael war, in der Opposition, so lange prinzipiell bereit, mit der Regierungsfraktion für stärkere Vollmachten der Exekutive gegenüber der IRA zu stimmen, bis die Abgeordneten den Text des geplanten Gesetzes lasen.

Dieses Gesetz stellt den Rechts-

Staat auf den Kopf. Zur Einkerkerung eines der Mitgliedschaft in der IRA Verdächtigten — und ein solcher Verdacht kann in diesem Land sehr leicht auf einen Mißliebigen gelenkt werden — sind künftig weder Beweise noch konkrete Verdachtsmomente notwendig. Die beeidete Aussage eines Polizeisuperintendenten, er halte eine oder mehrere Personen für Mitglieder der IRA, soll künftig für den Nachweis der Mitgliedschaft genommen werden — Polizistenwort wird mit Tatsache gleichgesetzt. Die Beweislast liegt dann, entgegen dem fundamentalsten Grundsatz jeder Rechtsprechung, die diesen Namen verdient, beim Verdächtigten. Nicht ihm ist zu beweisen, daß er schuldig ist, er muß vielmehr seine Unschuld beweisen.

Dieses Gesetz kann eines Tages leicht auch gegen die Opposition gekehrt werden. Die Abgeordneten von Fine Gael fürchteten, eines Tages könnten, etwa in der Hitze eines sich zuspitzenden ' Wahlkampfes, auch oppositionelle Politiker, die bisher niemals in die Nähe der IRA kamen, also auch sie, von einem Polizeisuperintendenten für IRA-Mgehalten und zumindest bis zum Ende des Wahlkampfes aus dem Verkehr gezogen werden. Die Gegenstimmen der größten Oppositionspartei hätten den Kampf um das Sondergesetz im Dail zu einem parlamentarischen Kopf-an-Kopf-Rennen gestempelt.

Als die beiden Bomben in Dublin explodierten — verhängnisvoll waren die Auswirkungen der in einem Wagen mitten im Stadtzentrum von Dublin detonierenden Sprengladung — und zwei Menschen töteten und weit über hundert verletzten, zwei davon lebensgefährlich, bröckelte der Widerstand der großen Oppositionspartei (die übrigens, wie Fianna Fail, ebenfalls eine Partei mit konservativer Grundhaltung ist) ab. Es schien, und wer könnte den Abgeordneten dies verdenken, nicht länger verantwortbar, Premierminister Lynch in den — endlich, endlich! — gegen die IRA erhobenen Arm zu fallen. Sie stimmten nicht für das Gesetz, aber sie enthielten sich der Stimme.

Damit war der Weg für die Bill frei. Sie wurde, nach einem parlamentarischen Marathon von 35 Stunden, knapp vor vier Uhr früh im Dail mit 69 zu 22 („The Observer“ und „Evening Standard“ zufolge) beziehungsweise, so die „Sunday Times“, 70 zu 23 Stimmen (auch Britanniens gerühmte Presse ist sich in solchen Fragen manchmal uneins)

angenommen, und passierte nach einer auf eine Stunde angesetzten und auf zehn Stunden ausgedehnten Debatte mit 33 zu 6 Stimmen auch den Senat.

Es ist ein Beweis für die mittlerweile auch in Südirland gefährlich angeheizte Atmosphäre, daß die im Zusammenhang mit einer buchstäblich in eine parlamentarische Debatte platzenden Bombe fällige Frage „cui bono?“ nicht mit der genügenden Intensität gestellt wurde. Denn daß diese Explosion die Abgeordneten gegen die IRA emotionalisieren mußte, war vorherzusehen gewesen, und das Dementi der IRA, sie habe mit diesem Attentat nichts zu tun, klang im gegenständlichen Fall durchaus glaubhaft. Während David O'Connell, Vizepräsident der der IRA nahestehenden Oppositionspartei Sinn Fein, in den Couloirs des Parlaments erklärte, er halte den Anschlag „für Mister Lynchs Reichstagsbrand“, wies auch die UDA, die militante antikatholische , Organisation der Ulster-Protestanten unter dem ehehmaligen Innenminister Craig, jede Verantwortung für die Explosion von sich.

Am Morgen nach der historischen Entscheidung des Dail, im Konflikt zwischen rechtsstaatlichen Prinzipien und wirkungsvoller Verfolgung der IRA auf erstere zu verzichten, pilgerten hohe Polizeibeamte zu Lynch, offensichtlich, um mit dem Premier die ersten Schritte gegen IRA-Mitglieder zu beraten. Gleichzeitig gingen die bekannteren IRA-Männer in den Untergrund. Während zwei Erzbi-schöfe am Bett des herzkranken, jede Nahrungsaufnahme verweigernden IRA-Stabschefs Ian McStiofain weilten (kein Umstand illustriert schlaglichtartiger die tiefe Gespaltenheit der Nation), zögerte der greise und blinde Staatschef Eamon de Valera stundenlang, seine Unterschrift unter das Gesetz zu setzen, das erst mit dieser Unterschrift vollzogen werden kann.

Nicht nur Irland, auch England hielt den Atem an. Jedermann erwartete Massenverhaftungen. Doch nichts dergleichen geschah in den folgenden Tagen. Dafür setzte in Nordirland eine neue Offensive der IRA ein — geführt, möglicherweise, von IRA-Männern, die sich aus der plötzlich ungemütlich gewordenen südirischen Etappe an die Ulster-Front begeben hatten, geführt nicht nur mit Bomben und Maschinenpistolen, sondern wiederum auch mit Raketenwerfern osteuropäischer Bauart, die in Ulster seit wenigen Wochen in Erscheinung treten und kaum geeignet scheinen, den Optimismus des britischen Nordirland-Ministers Whitelaw, die IRA liege in den letzten Zügen, zu bekräftigen.

Die irische Entwicklung dar letzten Wochen ist reich an tragischen Widersprüchen. Es ist ein tragischer, blutiger Widerspruch, daß erst eine offensichtlich gegen die IRA gelegte Bombe der Regierung die Möglichkeit verschaffte, gegen die IRA , es ist ein tragischer Widerspruch, daß nun äußerst bedenkliche, Verfassung und Rechtsstaat gefährlich strapazierende Mittel die Versäumnisse eines Rechtsstaates, der nun einmal immer auch ein Parteienstaat ist, gutmachen sollen, und es ist nicht zuletzt ein blutig-tragischer Widerspruch, daß der bestgehaßte aller IRA-Führer, McStiofain, just in dem Moment festgesetzt und zu einem halben Jahr Haft (man konnte ihm persönlich nur die IRA-Mitgliedschaft, aber keinen IRA-Mord nachweisen) verurteilt wurde, in dem er über alle möglichen Kanäle versuchte, ein Waffenstillstandsangebot an Minister Whitelaw heranzutragen.

Aber wie so oft Westmoreland in Vietnam, so war, in Ulster, Whitelaw davon überzeugt, der Gegner sei niedergerungen und es sei nicht mehr nötig, mit ihm zu verhandeln. Während in Paris Männer, die den Viet-kong bestimmt nicht schätzen, mit Führern des Vietkong an einem Tisch sitzen, um im Interesse des Friedens zu einer Einigung zu gelangen, nachdem die Situation unerträglich geworden ist, hat Ulster, gegenwärtig

eines der geschlagensten unter den geschlagenen Ländern dieser Erde, jenes Maß an Unerträglichkeit, das dazu zwingt, sich mit Männern an einen Tisch zu setzen, mit denen man sich nicht an einen Tisch setzen kann, offenbar noch nicht erreicht. Dies der tragischeste, blutigste Widerspruch.

Der Preis der Standhaftigkeit — vor einer Woche starb in Ulster das 654. Opfer dieses Bürgerkrieges, wenige Tage, nachdem die britische Army den hundertsten in Ulster gefallenen Soldaten des Jahres 1972 registrieren mußte.

Wer meint, die irischen Schrecken des Jahres 1972 könnten nicht gesteigert und allein schon deshalb müsse „das Licht am Ende des Tunnels“ (so der amerikanische Oberkommandierende in Vietnam einst mindestens einmal im Jahr) endlich sichtbar werden, irrt. Man braucht nicht irische Geschichte zum Vergleich heranzuziehen, es genügt Irlands Zeitgeschichte. Das Ausmaß der Schrecken, die vor etwas mehr als einem halben Jahrhundert mit der Schaffung des Freistaates Irland endeten, ist noch lange nicht erreicht.

Der erste Tropfen auf den heißen Stein: Die Verfassungsänderung in Südirland, mit der Lynch die absolute Vorrangstellung der katholischen Kirche gemildert hat, um die Republik für Nordirlands Protestanten etwas annehmbarer zu machen. Aber wenn diesem ersten Topfen kein Regen folgt, kein Regen auf alle heißen Steine Irlands, keine Maßnahmen zugunsten der Katholiken Ulsters, keine weiteren Schritte zu einem moderneren Südirland, muß alles, was gelegentlich kühlend aus diesem heißen Himmel tropft, wirkungslos verpuffen.

„Cool it!“ schrieben schon vor zwei Jahren die Katholiken von Der-ry, die Engländer sagen Londonderry, an ihre Häuserwände. Es gibt keine Maßnahme in Irland, der hö-' here Priorität zukäme.

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