7003529-1987_34_05.jpg
Digital In Arbeit

Visitenkarte für große Koalition

19451960198020002020

Stimmen-Splitting wie in der Bundesrepublik wird's in Österreich nicht geben. Ein Parteienkompromiß in Richtung größerer Bürgernähe zeichnet sich jedoch ab.

19451960198020002020

Stimmen-Splitting wie in der Bundesrepublik wird's in Österreich nicht geben. Ein Parteienkompromiß in Richtung größerer Bürgernähe zeichnet sich jedoch ab.

Werbung
Werbung
Werbung

Die Gestaltung des Wahlrechts entscheidet über die in der Bundesverfassung festgelegte demokratische Staatsform und über das parlamentarische Regierungssystem. Neben den Grundsätzen des gleichen, unmittelbaren, geheimen und persönlichen Wahlrechts spricht die Bundesverfassung von „den Grundsätzen der Verhältniswahl”. Damit legt sie das Verhältniswahlsystem fest, ohne sich aber genau festzulegen. So bleibt der einfachen Bundesgesetzgebung doch ein verhältnismäßig breiter Regelungsspielraum.

Für unsere Verfassungsväter war das Proporz Wahlsystem das demokratische Wahlrecht. Das Proporzsystem entsprach dem Mißtrauens- und Gleichgewichtszustand der großen Lager.

Es entsprach der Vorstellung vom Parlament als Zentralorgan des politischen Prozesses. Das Parlament als Volksvertretung sollte Spiegel und Statistik der in der Gesellschaft vorhandenen parteipolitischen Anhängerschaft sein. Durch den Proporz konnte der Tendenz nach jede Stimme gleich viel wert sein und jedes Mandat gleich viel kosten.

Freilich konnten die Wählerstimmen sich erfolgreich streuen, mehrere Parteien die Regierungsbildung und -fähigkeit erschweren, neue Bewegungen sich relativ leicht durchsetzen. Diese Nachteile wurden in Kauf genommen.

In der Staatspraxis war freilich die Regierung das Zentralorgan des politischen Prozesses geworden; sie aber wird beim Verhältniswahlrecht wenig durch die Wähler bestimmt. Die Tendenz zu Koalitionsregierungen führt zu weniger Abhängigkeit der Parteien vom Volk als die Tendenz zur Alleinregierung. Das alles wurde und wird in Kauf genommen.

Alle Plädoyers für ein mehr-heitsförderndes Wahlrecht in Österreich blieben bisher erfolglos. Beim derzeitigen recht „ungleichen Vierparteiensystem” kommt es gar nicht erst zu Plädoyers.

Während das Verhältniswahlsystem sowohl in der Ersten als auch in der Zweiten Republik zum Grundkonsens gehört, wird seit dem Beginn der Republik über Aufstellung und Plazierung der Kandidaten diskutiert und mehr Wahlmöglichkeit für den Wähler verlangt. Es geht um das Verhältnis von Person und Liste, um Persönlichkeit und Partei, Porträt und Programm, Image der Kandidaten und Ideenkreis seiner Gesinnungsgemeinschaft.

Die starr gebundene Parteiliste der Nationalratswahlordnung 1923 wurde auch nach 1945 beibehalten. Man hatte sie schon in der Ersten Republik kritisiert und in ihr einen Grund der Parteienherrschaft, des Radikalismus und der politischen Entfremdung gesehen.

Schon bald nach Beginn der Republik hat es Reformvorschläge gegeben. Ihre Grundgedanken sind Konstanten der Reformdiskussion. Es gibt eine Wiederkehr des Gleichen bis zur Wahlrechtsreform der großen Koalition des Jahres 1987.

So trat vor genau 63 Jahren der Sozialdemokrat Friedrich Adler für die Verbindung von Einerwahlkreisen mit einem Proporzausgleich ein. Am Stimmzettel sollte der Wähler den Namen eines der in seinem Wahlkreis von den Parteien aufgestellten Kandidaten sowie den Namen der Partei, der dieser Kandidat angehört, verzeichnen. So könne der Wähler auf die Auslese der Mandatare einwirken.

Er sollte für den Kandidaten oder nur für die Partei oder für beide stimmen können. In diesem Fall wäre der Stimmzettel nur gültig gewesen, wenn die bezeichnete Partei jene des Kandidaten gewesen wäre.

Dieses Konzept wurde mit gewissen Variationen sozialisti-scherseits wiederholt vorgetragen. So etwa 1929 von Otto Bauer, zurückhaltender von Karl Renner, wieder 1963,1969, bis es in unserer Zeit im Reformvorschlag des SPÖ-Klubs aus 1979 unter der Federführung Heinz Fischers und dieser Tage im Reformkonzept der großen Koalition aufscheint.

Ähnlich ist es mit den Auslese-und Plazierungsmöglichkeiten der Kandidaten durch aktive Wähler: Schon 1925 hat Karl Polanyi eine Personenwahl vorgeschlagen.

Der Wähler hätte die Möglichkeit gehabt, entweder die Liste ungereiht als Parteistimmzettel abzugeben oder gereiht als Nominalstimmzettel. Diese Nominalstimmzettel wären für die Plazierung der Kandidaten maßgebend gewesen. Auch dieser Vorschlag kehrte, mehr oder weniger modifiziert, in der Wahlreformdiskussion immer wieder. Er entspricht weitgehend den Vorschlägen der ÖVP im Sinne einer Verstärkung des Persönlichkeitswahlrechts.

1949 wurde die starr gebundene Parteiliste durch die lose gebundene ersetzt. Das Reihen und Streichen von Kandidaten auf der Liste wurde von der ÖVP gegen die SPÖ und die KPÖ durchgesetzt. Die Wähler haben vom Reihen und Streichen jedoch wenig Gebrauch gemacht.

Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre kam es zur ersten und letzten großen Diskussion über einen Ubergang zum Mehrheitswahlsystem. Der äußere Anlaß war der Ubergang von der Koalitionsregierung zur Alleinregierung. Überdies war trotz des Verhältniswahlrechts in Osterreich fast ein Zweiparteiensystem entstanden, sodaß sich der Ubergang zum britischen Modell des Regierungssystems anbot. Das Mehrheitswahlrecht mit Einerwahlkreisen bringt eine relativ starke Bindung zwischen Wähler und Mandatar.

1970 setzte die SPÖ mit Hilfe der FPÖ die „Nationalratswahlordnung 1971” durch, die noch heute in Kraft ist. Die Vergrößerung der Wahlkreise brachte an sich den Vorwurf der „Entpersönlichung”. Als Persönlichkeitseffekt gab die neue Wahlordnung dem Wähler die Möglichkeit, einem Kandidaten der von ihm gewählten Partei eine Vorzugsstimme zu geben. Er muß so viele Vorzugs stimmen erhalten, wie die Wahlzahl in seinem Wahlkreis beträgt. Diese Personalisierung wurde von der Wählerschaft nicht besonders angenommen.

In den letzten Jahren kam es verstärkt zur Diskussion über die Möglichkeiten einer stärkeren Beziehung und Bindung des gewählten Mandatars zu seinem Wähler. Ein stärker personenbezogenes Wahlsystem wird von der Bevölkerung nach mehreren Meinungsbefragungen als Verbesserung des Wahlrechts empfunden. Eine Personalisierung kann die Legitimationskapazität der parlamentarischen Wahl erhöhen. Für manche ist sie auch eine Verstärkung der Partizipation.

' Seitens der SPÖ wurde unter der Federführung Heinz Fischers vor allem vorgeschlagen, die direkte Wahl in Einerwahlkreisen mit Parteilisten und einem Ausgleich im Sinne der Verhältniswahl zu kombinieren. Die ÖVP-Vorschläge zielten auf die Personalisierung durch ein umfassendes Vorzugsstimmensystem. Ein von Alois Mock, Heinrich Neisser und Herbert Kohlmaier eingebrachter Antrag zielte darauf ab, dem Wähler die Plazierung und die Auswahl der Kandidaten vorzubehalten. Danach hätten nur Kandidaten mit Vorzugs stimmen ins Parlament kommen können.

Diese Vorschläge erinnern an das Südtiroler Modell des Wahlsystems, während der SPÖ-Vor-schlag dem Wahlsystem der Bundesrepublik Deutschland ähnelt.

Sind also die von Generalsekretär Michael Graff am 7. August 1987 vorgelegten 15 Thesen zur Wahlrechtsreform eine Mischung von Elementen des Wahlsystems der Bundesrepublik Deutschland und solchen des Südtiroler Systems, auf österreichisch serviert? Für manche mit dem Wermutstropfen versehen, daß der Wähler mit einem Stimmzettel nicht zwei verschiedene Parteien wählen kann?

Das wollte ja schon Friedrich Adler 1924 nicht. Damit sind wir aber beim „roten” Faden, der die Wahlordnungsdiskussion durchzieht: Direktwahl in Einerwahlkreisen mit der Listenwahl im Proportionalsystem zu verbinden.

Die Landesliste ist wiederum im Sinne der „schwarzen” Kontinuität eine lose gebundene Liste: Der Wähler soll auf die Auswahl der Kandidaten durch Reihung Einfluß nehmen können.

So hat er Wahlmöglichkeiten: Er kann den Direktkandidaten wählen und (oder) seine Partei, und er kann die Kandidaten innerhalb seiner Parteigruppe reihen und bestimmen.

Insgesamt: Der schwarz-rote Faden, die Konstanten der Wahlreformvorschläge sind zu einem Kompromiß im Grundsätzlichen geworden. Es hätte nun die Einladung an die Öffentlichkeit zu ergehen, insbesondere an Politologen und Verfassungsrechtler, über Verfassungsmäßigkeit, Gerechtigkeit und Zweckmäßigkeit der beabsichtigten Regelung zu diskutieren.

Karl Renner hat das Wahlrecht einmal die Visitenkarte der Demokratie genannt. Die Wahlrechtsreform wird die Visitenkarte der großen Koalition werden.

Bisher konnte in der Zweiten Republik eine Harmonisierung von Verhältniswahl und Persönlichkeitswahl nicht erreicht werden. Gelingt sie der großen Koalition, wäre es ein historischer Kompromiß.

Der Autor ist Professor für Rechtslehre an der Universität für Bodenkultur und OVP-Stadtrat in Wien.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung