6827967-1974_22_07.jpg
Digital In Arbeit

Völkermord?

Werbung
Werbung
Werbung

Während sich das Weltinteresse auf die Bemühungen des USA-Außenministers Henry Kissinger konzentrierte, entwickelte sich die blutige Auseinandersetzung auf dem nahöstlichen Nebenkriegsschauplatz Kurdistan erneut zu einem fast unbeachteten Völkermord. Der Irak versucht, seine Schandtaten propagandistisch dadurch zuzudecken, daß er verbreitet, Kurdenführer Mullah Mustafa el-Barsani habe eine Separatistenregierung gebildet und wolle durch die Loslösung Irakisch-Kur-ddstans von Bagdad den ersten Schritt zu einer „Balkanisierung“ Ostarabiens tun. El-Barsani bediene sich israelischer Ausbüdner und amerikanischer Waffen, lautet eine weitere irakische Propagandabehauptung. Vertrauenswürdigen Augenzeugen zufolge existiert bislang weder eine kurdische „Regierung“ (der Kurdenführer verlangt nach wie lediglich eine echte Autonomie für seine Landsleute), noch gilbt es bei den kurdischen „Pesch-Merga“-(„Ddje Todesbereiten“)Verbän-den einen einzigen israelischen Instrukteur. Bei den westlichen Waffen handelt es sich durchwegs um ältere Modelle von Schnellfeuerwaffen, gepanzerten Kleinfahrzeugen und Kleinraketen aus iranischen Armeebeständen.

Von kurdischer Seite wurden jedoch unzweifelhafte Beweise für die Verwendung von Napalm und Giftgas aus offenbar sowjetischen Quellen bei Luft- und Bodenangriffen gegen kurdische zivile Siedlungen vorgelegt Bei den seit Wochen andauernden Kämpfen im Nordirak, bei denen es auch zu Übergriffen gegen angrenzende türkische Dörfer keim, wurden annähernd vierhundert Kurden getötet Die Iraker töteten in mehren Fällen kurdische Geiseln, die die Schlupfwinkel der „Pesch-Merga“ nicht verraten wollten, ohne Prozeß am Straßenrand

In Bagdad selbst hat man fünf militante Kurden, darunter eine junge Frau, hingerichtet und eine Anzahl kurdischer Würdenträger, die nicht mehr rechtzeitig fliehen konnten, stehen unter Hausarrest oder befinden sich in den berüchtigten Staatssicherheitsgefängnissen. Allerdings scheinen auch die Kurden ihren irakischen Gegnern bereits schwere Verluste zugefügt zu haben. Obwohl auf dem „Kriegsschauplatz“ den etwa neunzigtausend irakischen Soldaten, die mit Panzern und Flugzeugen ausgerüstet sind, nur vierzigtausend kurdische Krieger gegenüberstehen, sind die Kurden in dem ihnen vertrauten unwegsamen Ge-birgsgelände den Irakern eindeutig überlegen. Schon jetzt stehen die „Pesch-Merga“-Verbände stellenweise nur zwölf Kilometer vor dem nordirakischen Erdölzentrum Kir-kuk.

Die Kurden kämpfen verzweifelt gegen die Zeit. Die Seele ihres Widerstandes ist der greise ehemalige Sowjetgeneral El-Barsani. Vielleicht glaubt nur noch er an die Vision eines freien und unabhängigen Kurdistan. Kürzlich soll sich sogar einer seiner Söhne von ihm abgewandt haben. Die Jüngeren sind zwar mit ihm einig, daß man die Iraker mit der Waffe in der Hand zu größeren Zugeständnissen zwingen müsse, sie wissen aber auch, daß Persien sie nur solange unterstützt, wie sie dem Teheraner „Erbfeind“ Bagdad schaden, und daß sie keine Chance haben, die Wiedervereinigung aller Kurden im Irak, Syrien, Persien, der Türkei und der Sowjetunion in einem Staat Kurdistan zu erreichen. Kurdistans Jungpolitiker wissen, daß sie sich nach dem sicher nicht mehr lange auf sich warten lassenden Ausscheiden el-Barsanis mit den Arabern arrangieren müssen. Ihre Rechnung lautet: im Gebirge sind die Iraker uns, im Flachland wir ihnen unterlegen. Wenn wir den Sommer über durchhalten, wächst die Chance zu einer neuen Verhandlungsrunde über die Autonomie im Herbst oder im Winter. Eine Unbekannte allerdings gibt es in dieser Rechnung: mit Giftgas kann man sogar die abgelegensten Berghöhlen ausräuchern.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung